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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt
Autoren: Lilly Lindner
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den anderen in ein Heim gegeben. Seitdem wartet sie jeden Tag darauf, dass ihre Adoptiveltern vielleicht einmal zu Besuch kommen, aber sie kommen nie. Anja weint, und ich versuche sie zu trösten. Wir sitzen in ihrem Zimmer auf dem Bett und lauschen der Weihnachtsmusik aus dem Wohnzimmer. Sie klingt schadenfroh, nicht himmlisch. Irgendwann steht Anja schließlich auf und verbarrikadiert sich im Badezimmer, wo sie für den Rest des Abends »Jingle Bells« vor sich hin singt. Dann klingelt es an der Tür, und meine Eltern stehen vor mir.
    Kurz darauf sitze ich stumm zwischen den beiden am Weihnachtstisch des Kinderheims und tue so, als würde ich Kartoffelklöße mit Bratensoße essen. Nebenbei betrachte ich das festliche Spektakel: Eriks Mutter schimpft die ganze Zeit über vor sich hin, obwohl Erik ausnahmsweise einmal ganz still und wie angekettet auf seinem Stuhl sitzt. Sofie hält ganz stolz ihren kleinen Bruder auf dem Arm, während ihr betrunkener Vater auf dem Balkon steht und seine neunzehnte Zigarette raucht. David sitzt zwischen seinen übertrieben fröhlich strahlenden Eltern und wird im Drei-Minuten-Takt geknuddelt, obwohl er eine Grimasse schneidet, die ziemlich deutlich zeigt, dass er am liebsten den Christbaum samt seinen Eltern anzünden würde. Jacqueline hat irgendeinen Onkel mit Hornbrille neben sich sitzen, mit dem sie kein einziges Wort wechselt, Gevin hockt alleine hinter der Schüssel mit dem Rosenkohl versteckt und verdrückt seinen vierten Kartoffelkloß, Lara sitzt zwischen ihrer jüngsten Schwester und der Mutter und freut sich schrecklich, dass die beiden heimlich für eine halbe Stunde vorbeigekommen sind, obwohl der neue Mann ihrer Mutter es unter Androhung von Gewalt verboten hat. Marcel hat Besuch von seiner Oma, die ihm jede Woche ein Päckchen schickt, mit Süßigkeiten für uns alle darin, und Dennis’ Platz ist leer, weil er seit zwei Tagen verschwunden ist.
    Meine Mutter spricht kein Wort mit mir und schnauft nur manchmal wie eine kaputte Dampflok. Aber mein Vater fragt mich: »Wie geht es dir denn so?«
    Ich lüge: »Gut.«
    Dann will mein Vater wissen: »Wie läuft es in der Schule?«
    Ich sage: »Sehr gut.«
    Mein Vater fragt weiter: »Wirst du gut behandelt?«
    Ich antworte: »Ganz besonders gut.«
    »Das ist gut«, sagt mein Vater.
    »Ja«, bestätige ich.
    Und dann packen wir unsere Geschenke aus.
     
    An manchen Donnerstagen besuchen Lara und ich ihre Mutter und ihre drei Geschwister. Wir bekommen dann immer Mikrowellenessen und können kurz mit Laras kleinen Geschwistern spielen, bevor wir wieder gehen müssen. Um 18 Uhr schiebt uns Laras Mutter immer ganz nervös vor die Tür und sagt zum Abschied: »Schnell, beeilt euch!«
    Denn um 18 . 30 Uhr kommt Laras Stiefvater nach Hause, und seine Lieblingsbeschäftigung ist, Lara zu verprügeln.
    »Wenn er mich in diesen Klamotten sieht«, sagt Lara eines Tages zu mir und deutet auf ihr Oberteil (ein ganz normales T-Shirt, wie es jedes Mädchen trägt) und auf ihren Rock (der bis weit über ihre Knie fällt), »wenn er mich so sieht, dann schlägt er mich bestimmt tot! Er hat mich sowieso schon ständig geschlagen. Stell dir nur mal vor, was er mit mir macht, wenn er sieht, was ich anhabe.«
    Dann weint Lara plötzlich los, und wir setzen uns auf eine Bordsteinkante und warten darauf, dass die Traurigkeit vergeht und der Bus kommt.
     
    Eines Tages zündet David mein Kleid an, und es brennt, als wäre ich die Hölle. Anschließend darf ich meine Sachen packen und umziehen, in eine andere Einrichtung, in der ich laut Jugendamt besser aufgehoben bin. Mitten in Dahlem, zwischen den schönsten Villen, direkt am Botanischen Garten gelegen, steht das renovierungsbedürftige Jugendheim »Ende« und heißt mich willkommen.
    Im »Ende« sind ein paar Betreuer nicht ganz so bescheuert wie im ersten Heim, aber dafür sind die bescheuerten Betreuer gleich doppelt bescheuert, also läuft es irgendwie aufs Gleiche hinaus. Dafür sind die Jugendlichen weniger gewalttätig, und ich kann schlafen, ohne Angst davor zu haben, in einer Rauchwolke aufzuwachen. Nachts schleiche ich mich manchmal in die Jungenetage, um mit Steve herumzuknutschen. Es bedeutet nichts. Aber es ist verboten. Und was gibt es Schöneres, als Regeln zu brechen.
    Die Tage im »Ende« sind hart, und ich bin todmüde, weil ich jeden Morgen unheimlich früh aufstehen muss, da ich mit dem Fahrrad bis zur Schule fast eine Stunde brauche. Ich kann nicht mit dem Bus oder mit der
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