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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt
Autoren: Lilly Lindner
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und größer, ich habe das Gefühl, dass meine Augen platzen, dann fangen meine Hände an zu zittern, mein Atem wird so hastig, dass ich kurz davor bin, an Luft zu ersticken. Ich taumele in Richtung Telefon, kippe auf dem Weg dahin mindestens zweimal um und laufe schließlich aus Versehen daran vorbei. Irgendwann habe ich dann doch noch den Hörer in der Hand, sitze auf dem Fußboden, stiere eine Steckdose an, weil ich es nicht schaffe, den Blick davon zu wenden, und überlege, wie man telefoniert. Aber da ich auch nicht mehr weiß, wen ich eigentlich anrufen wollte, lege ich wieder auf.
    »So«, sagt ein klar denkender Teil in mir zynisch und von oben herab, »jetzt weißt du also, wie es ist, normal und antidepressiv zu sein. Zufrieden?«
    Ich rolle mich mit dem Telefon in meinem Arm auf dem Boden zusammen und schlafe ein.
     
    »Hör auf, in deinem Essen herumzustochern«, sagt mein Vater am nächsten Tag.
    »Iss deine Nudeln«, schimpft meine Mutter.
    Ich glotze mit riesigen Pupillen auf meinen Teller, verharre mitten in meiner Spaghetti-Revolution und versuche normal zu wirken. Langsam schiebe ich mir einen Bissen in den Mund, kaue sehr überzeugend darauf herum und spucke anschließend alles unauffällig in eine Serviette. Daraus mache ich dann eine Endlosschlaufe, bis mein Teller leer und die Serviette voll ist.
    Gute Mädchen schlucken. Ich weiß.
    Aber ich bin böse.
    Zwei Monate nach meinem Klinikaufenthalt sind mir drei Begebenheiten absolut bewusst. Erstens: Meine Mutter hat mich vorher gehasst, aber jetzt hasst sie mich richtig. Denn was ist schlimmer als eine Tochter, die sich einbildet, krank zu sein, und in eine Psychoklinik flüchtet, nur weil sie keinen Bock mehr hat, zur Schule zu gehen. Das jedenfalls sagt sie zu mir, und anschließend sagt sie so gut wie gar nichts mehr. Zweitens: Ich bin meinem Vater so fremd, wie man jemandem nur sein kann. Er versteht nicht das Geringste von mir, und selbst wenn ich blutend und mit aufgeschnittener Seele vor ihm herumzappeln würde – er würde nichts anderes tun, als mir zu sagen, ich solle mich beruhigen. Und drittens: Ich will nicht leben, ich will nicht sterben. Aber eins von beidem muss ich tun, also muss ich herausfinden, was von beidem besser ist. Und das kann ich nur, wenn ich gehe.
    Also gehe ich.
    Ins Jugendamt. Dritter Stock, rechter Flur, sechste Tür links. Herr Steinbeck.
    »Ich bin so gut wie Geschichte«, sage ich, »wenn Sie mich zurück zu meinen Eltern schicken.«
    Und der Mann mit den grauen Haaren und dem müden Blick sieht mich eine Weile lang sehr erschöpft an und erwidert schließlich: »Wenn du mir sagst, dass du aus irgendeinem Grund nicht mehr nach Hause gehen möchtest, dann bin ich verpflichtet, dich anderweitig unterzubringen. Bist du dir sicher mit dieser Entscheidung?«
    Ich starre ihn an.
    Wie ein Betrunkener eine leere Flasche Bier.
    Glaubt er wirklich, ich renne zum Spaß ins Jugendamt?
    Oder zum abenteuerlichen Zeitvertreib?
    »Ja«, sage ich, nachdem ich meine Stimme wiedergefunden habe. »Ich war mir nie zuvor so sicher.«
    Herr Steinbeck seufzt und greift nach dem Telefon, das auf seinem Schreibtisch steht. Er wählt eine Nummer, wechselt ein paar Worte, legt auf und nennt mich Glück.
    Glückskind.
    Weil in einem Jugendheim gerade eben ein Platz frei geworden ist, den ich haben darf.
    »Du musst nicht erst in eine Notübernachtung, du kannst deine wichtigsten Sachen zusammenpacken und einziehen«, sagt Herr Steinbeck und kritzelt dabei etwas in meine Jugendamtakte.
    »Einfach so?«, frage ich ungläubig. Denn wenn ich eines gelernt habe, dann das, dass man niemals einfach so davonkommt.
    »Ja«, antwortet Herr Steinbeck und gibt mir einen Zettel mit der Adresse des Heims, »einfach so.«
    »Danke«, sage ich und stehe schnell auf, bevor er es sich doch noch anders überlegt.
    Herr Steinbeck gibt mir die Hand zum Abschied und murmelt etwas, das ich nicht verstehen kann. Aber ich habe keine Zeit, ihn danach zu fragen, und rausche zur Tür hinaus, das Treppenhaus hinunter und dann schleunigst aus dem Jugendamt heraus.
    »Ich ziehe in ein Jugendheim«, sage ich zu Hause angekommen zu meinem Vater. Er hat gerade Urlaub und sitzt, ganz vertieft in ein Buch über Afrika und dessen Einwohner, auf seinem Lieblingssessel.
    »Was?«, fragt mein Vater und sieht stirnrunzelnd auf.
    »Ich ziehe in ein Jugendheim«, wiederhole ich.
    »Aha«, sagt mein Vater.
    »Jetzt gleich«, sage ich.
    »Wie funktioniert das?«, will mein Vater
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