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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt
Autoren: Lilly Lindner
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bis die Pause vorbei ist, oder ich überlege mir einen neuen Notfallplan.
    Meine Zeugnisse hingegen bewerten meine Zukunft mit sehr gut. Ich stopfe sie in die Lilly-Akte meines Vaters. Da sind sie am besten aufgehoben, denn sie sagen absolut nichts über mich aus. Aber das mit dem Aussagen ist sowieso eine Sache für sich.
    Meine Mutter perfektioniert währenddessen ihren Lieblingssatz: »Ich hasse dich.« Sie kennt ungefähr zweihundert Varianten der satzgewandten Betonung.
    Mein Vater ist nie da. Und wenn er doch da ist, dann ist er immer noch zu weit entfernt, um mich wahrzunehmen.
    Meine Klassenkameraden wissen mittlerweile rein gar nichts mehr mit mir anzufangen. Außerdem könnte Geisteskrankheit ja auch ansteckend sein; also lieber einen Schritt weiter weggehen, als zu nah herankommen – man weiß ja nie. Hinzu kommt selbstverständlich noch die allgemein bekannte Tatsache, dass es absolut uncool ist, mit einem gestörten, von blauen Flecken übersäten Alien befreundet zu sein. Ich stehe also im Glaskasten auf dem Schulhof und setze mein gefälschtes Lächeln auf. Es tut mir leid, so zu sein, wie ich bin. Aber ich fühle mich wie eine Giraffe am Südpol, die mit einem Haufen Pinguinen in einem edlen Clubhaus mit riesigem Kronleuchter sitzt und mit dem Kopf ständig gegen die Decke stößt. Eine Giraffe, die den Hals verrenken muss, um von Angesicht zu Angesicht mit den schwarz-weißen, fremdartigen Kreaturen zu sprechen, die nie ausrutschen auf dem eisigen Boden und die nie frieren und immer in anständigen Grüppchen zusammen durch die weiße Schneewelt wuseln, als gäbe es keine Killerwale, die ab und zu durch die Eisdecke brechen und einen von ihnen verspachteln.
     
    Ich fange wieder an zu hungern. Denn der nagende Schmerz ist anmutiger als jeder andere. Und wozu bin ich schließlich ein Profi darin, mich in riesigen Pullovern und unter vier Schichten von T-Shirts zu verstecken.
    In meinen Träumen werde ich vergewaltigt. Aber ich schlafe nicht, ich bin wach. Ich sehe die Bilder, ich sehe mich, ich schließe die Augen vor mir. Dann flüstere ich mir Geschichten zu. Geheimnisse. Geschehnisse. Ich entschuldige mich.
    Aber ich verzeihe mir nicht. Dafür fehlt mir die Gabe.
    Und das Rechtsempfinden.
     
    Wenige Wochen später gebe ich schließlich auf. Während ich auf dem Fahrrad sitze und mit schlaffen Beinen in die Schule strampele, denke ich darüber nach, einfach in den nächsten Busch zu rasen und dort liegen zu bleiben, bis alles vorbei ist.
    Aber meine Gedankenströme sind zu sachlich: Im Busch liegen und warten ist keine sinnvolle Option. Und weil ich nicht alleine weiterkomme, beschließe ich ein letztes Mal, jemand anderen um Hilfe zu bitten.
    Also gehe ich zu einer Psychologin und sage: »Ich möchte sterben. Aber ich bin zu jung, um tot zu sein. Ich möchte leben. Aber ich bin zu alt für diesen Körper. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, die Flucht zu ergreifen und trotzdem hier zu bleiben. Wissen Sie, ich konnte noch nie sonderlich schnell rennen. Ich bin zwar in der Schulstaffel, aber das liegt nur daran, dass andere noch weniger schnell rennen können als ich. Für einen Pokal wird es ganz bestimmt nicht reichen.«
    Die Psychologin starrt mich an, kaut auf ihrem Kugelschreiber herum, rückt ihre Brille auf der Nase hin und her, guckt in ihren Terminplaner, schiebt mir eine Schale mit Bonbons hin, räuspert sich und verschreibt mir dann eine große Packung Antidepressiva.
    »Damit geht es dir besser«, sagt sie und glotzt mich an wie ein erschossenes Reh.
    »Danke«, sage ich, schlurfe in die nächste Apotheke und gebe das Rezept ab.
    Die Apothekerin mustert mich und das Rezept eine Weile lang sehr kritisch, als würde sie darüber nachdenken, ob ich es vielleicht gefälscht habe, weil ich ein Junkie bin, aber dann drückt sie mir doch mit gerunzelter Stirn eine riesige Packung in die Hand und schenkt mir dazu sogar noch eine Packung Taschentücher mit Eukalyptusgeruch, von dem mir schlecht wird.
    Zu Hause angekommen, werfe ich die Taschentücher in den Mülleimer, stelle die Pillenpackung auf meine Kommode und finde es mit einem Mal ziemlich dämlich, das missbrauchte kleine Mädchen in meinem Hirn mit Tabletten vollzustopfen, damit es seine Klappe hält. Irgendwann wird es sowieso wieder anfangen zu schreien. Und wie kann ich mir selbst noch in die Augen sehen, wenn ich meine Seele betäube und meine Augen verschließe vor dem, was ich bin?
    Am Abend kommen meine Eltern nach Hause, mein
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