Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
Autoren: Hermann Scherm
Vom Netzwerk:
erste Vorstoß mit dem Finger war ein voller Erfolg. Sie würgte alles ins Klo. 1000 Gramm Putenwiener mit extra scharfem Senf, zwei Tafeln Schokolade, vier Laugenbrötchen, drei Croissants, zwei Packungen Sesamkekse. Sie hatte gleich nach dem Abendessen angefangen zu fressen. Jetzt fühlte sie sich wieder erleichtert. Sie spülte den Mund aus und gurgelte bis tief in den Rachen, um den ekligen Geschmack der Magensäure los zu werden. Dann putzte sie hektisch die Zähne, eilte ins Zimmer zurück und schaffte die Spuren ihres Essanfalls beiseite. Sie wischte auch den letzten Krümel wie besessen vom Tisch, um ja alles zu beseitigen. Dann saß sie erschöpft da und fühlte sich schuldig und elend.
    Es war der erste Anfall seit Wochen. Fast hatte sie das Gefühl gehabt, gewonnen zu haben – und dann das. Sie konnte unmöglich aus dem Haus gehen. Vielleicht doch? Sie ging ins Bad zurück und versuchte, sich zu schminken, konnte sich aber nicht konzentrieren und verschmierte den Lippenstift und die Wimperntusche. Entnervt gab sie auf und legte sich ins Bett. Sie hätte niemals ja sagen dürfen zu dieser Verabredung, NEVER, das wusste sie jetzt, dem war sie nicht gewachsen, noch nicht, vielleicht nie.
    Damit war die ganze Therapie umsonst, sie hatte es wieder mal ordentlich verkorkst. All die Wochen hier mit gemeinsamem Essen, die Gruppensitzungen, die Therapiegespräche, alles vergeblich. Ob es den anderen Magersüchtigen, Tittenoperierten um sie herum auch so ging, waren sie alle für den Rest ihres Lebens zu dieser Scheiße verdammt? Sie zog sich die Decke über den Kopf und ließ ihre Gedanken laufen.
    Das war ihr Scheiß-Leben. Sie trieb einfach dahin, versickerte. Ihre Moleküle lösten sich auf. Sand, ein Hauch von Grün in einer zerklüfteten Steinwüste, in einer Steppe. Ihr Leben lief einfach dahin, versickerte. Seit Monaten war sie in dieser Klinik, ohne weiterzukommen, ohne Veränderung. Sie platzte vor innerer Energie, sie spürte das Brennen in ihrem Körper, ein schmerzhaftes Feuer, aber konnte nichts tun, war unfähig zu handeln, drehte sich im Kreis, nichts drang nach Außen. Die Zeit verging und sie wurde nur älter und fetter.
    Klar, da waren die helleren Zeiten, in denen sie durch die naheliegende Stadt zog, durch die Bars, Malatesta und Bodega und Kikki Bar , und nach den Jungs schaute, gern mal auch was älteres drunter, da war sie im gewissen Sinn Sammlerin.
    Irgendwie hatte sie da einen Hau weg. Sie sah ab und an gern in die verfallenen Gesichter ihrer älteren Liebhaber, das hatte was, sie liebte es, das zu studieren. Und klar, das waren immer Bewunderer, auch das hatte sie gern. Dieses alte Fleisch rieb sich gern an jungem und war dankbar, wusste es zu schätzen. Aber auch das junge Gemüse war okay, sie war nicht immer wählerisch.
    Manchmal hing sie auch etwas länger fest. Da war Simon, zum Beispiel, ein netter Typ eigentlich. Klar, schon im Methusalemalter mit seinen fünfundvierzig, aber dafür hatte er Flair. Nicht zu letzt wegen seiner 200 Quadratmeter Altbauwohnung am Limatufer, die fast leer war, bis auf ein paar handverlesene Bilder.
    Vor dem Immendorf stand sie gern mit einem Glas Champagner und erzählte Simon von ihrer rasierten Möse und dass sie nichts drunter hätte. Das Spielchen liebte sie und Simon schätzte es auch.
    Simon hatte auch noch andere Werte. Sie hatte nie Langeweile mit ihm. Und wenn, konnte sie sie sofort totschlagen, mit Ausgehen oder Verreisen oder einfach mit massivem Geldeinsatz.
    Simon hatte auch Kultur. Sie hatte ihn kennengelernt, weil sie zufällig neben ihm saß, bei einer Othello Inszenierung. Nach dem Theater waren sie durch den vom Regen duftenden Park an der Limat spaziert. Auf der verlassenen Terrasse eines schon geschlossenen Uferrestaurants hatte sie ihn dann gevögelt. Es war einfach zu süß von ihm, dass er eine Flasche Wodka aus einer Kneipe organisiert hatte, um sie in Stimmung zu bringen, das musste belohnt werden. Dass sie einen Gummi dabei hatte und unheimlich geschickt damit umgehen konnte, verwirrte ihn kurz, ein Moment, in dem er sich nicht mehr so sicher war, ob sie wirklich das kleine unschuldige Mädchen war, für das er sie gehalten hatte. Einen Augenblick lang hatte er sogar gedacht, dass sie eine Professionelle sein könnte, wie er ihr später gestanden hatte, der Süße.
    Simon brachte sie auch in Kreise, in die sie ohne ihn nie gekommen wäre. Kunstliebhaber und Kunsthändler mit Kohle ohne Ende. Anwesen über der Stadt, in denen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher