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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
Autoren: Hermann Scherm
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durch, die sie im Internet gefunden hatte und schickte eins davon los. Dieser kleine, geile Irre würde ihr das sicher abnehmen. Und wenn nicht, auch egal, er würde sicher mit der Vorlage ganz gut zurechtkommen. Sie hatte kein Mitleid mit ihm, schwanzgesteuertes Arschloch! Damit war diese Romanze für sie zu Ende.

* * *
    Dr. Jens Langer nahm gerne den Zug. Ob ICE, IC oder Regionalexpress war ihm egal. Es machte ihm nichts aus, eine halbe Stunde länger unterwegs zu sein. Im Zug konnte er wunderbar nachdenken. Solange er unterwegs war, waren seine Gedanken frei.
    Als Kind war er auch gerne mit dem Triebwagen in die Kreisstadt zur Oberschule gefahren. Er mochte das. Der rote Zug brachte ihn für den Vormittag aus der Enge der kleinen Stadt hinaus in die Welt. Es machte ihm Spaß, auf die Gleise zu sehen und unterwegs zu sein.
    Schienen waren ihm vertraut. Er hatte unter Eisenbahnbrücken gespielt, war auf den Schienen, die in den nahegelegenen Steinbruch führten, entlang spaziert, verbotener Weise. Aber der Geruch der alten Gleise hatte ihn fasziniert, nach Rost, Schmiere und Teer. Irgendwo gab es das vielleicht noch, an stillgelegten Strecken. Die Schienen, auf denen noch Züge rollten, hatten jedoch keine Romantik mehr, nicht einen Hauch. Auch der Beruf des Eisenbahners hatte viel verloren vom Mythos vergangener Tage, als Schienen verlegen noch eine Pioniertat wahr. Aber noch konnte man träumen im Zug, konnte die Freiheit der Gedanken genießen. Ja, Züge sind Traummaschinen, dachte er kurz und lächelte, weil diese Formulierung ein Klischee war, ein unerträgliches, wie alles, was man schreiben konnte, heutzutage.
    Das war ein Klischee, natürlich, ein unerträgliches. Früher wollte er mal Schriftsteller werden. Möglichst ein bekannter Autor, ein Genie. Jetzt war er so weit davon entfernt, wie die moderne Eisenbahn von dem roten Triebwagen mit dem er als 10-Jähriger in die Schule gefahren war.
    Ganz entfernt hatte er noch mit dem Schreiben zu tun. Als seine Stelle am psychologischen Institut der Universität gestrichen wurde und er beim besten Willen keine Anstellung in seinem Job mehr fand, hatte er angefangen, Biografien zu schreiben. Keine Biografien von Berühmtheiten sondern Biografien im Auftrag, für einfache Leute. Am Anfang war es mühsam, Kunden zu finden, und er brauchte endlos Zeit für die 150 bis 200 Seiten, die eine solche Biografie in der Regel umfasste, zu lange, um profitabel zu arbeiten.
    Das änderte sich mit den Jahren. Er ging jetzt systematischer vor und steigerte dadurch sein Tempo enorm. Wenn er sich reinhing, schaffte er eine Biografie in drei Wochen. Zwei Tage Interview und Recherche beim Auftraggeber und rund zwanzig Tage schreiben. Und das Beste, der Job machte ihm Spaß. Es war interessant, so nah am Leben anderer Menschen teilzuhaben. Er wusste nach der Fertigstellung der Biografie mehr über diesen Menschen als dessen eigene Kinder, wesentlich mehr. Es erstaunte ihn immer wieder, wie weit seine Auftraggeber bereit waren, sich ihm zu öffnen, einem wildfremden Menschen. Und mittlerweile fand er, dass nichts spannender war als das wirkliche Leben, keine Fiktion konnte da mithalten.
    Er war schon gespannt auf den neuen Kunden, mit dem er morgen in Zürich zum ersten Interview verabredet war. Es handelte sich um den ehemaligen Leiter der Dermatologischen Klinik, der, zeitlebens von der bildenden Kunst fasziniert, im Alter noch eine Galerie in Zürich eröffnet hatte und auf eine reichhaltige Lebensgeschichte zurückblicken konnte, die er jetzt für die Nachwelt aufzeichnen lassen wollte.
    Mit noch größerer Spannung sah er einer Verabredung entgegen, die er für den heutigen Abend getroffen hatte. Seine Tochter Sarah, die er vor zwanzig Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, hatte sich telefonisch bei ihm gemeldet und ein Treffen vorgeschlagen. Er hatte Angst vor dieser Begegnung, weil er wusste, dass eine Lawine von Gefühlen nur darauf wartete, in unkontrollierte Bewegung versetzt zu werden. Seine Hände wurden nass vor Angst, wenn er daran dachte. Trotzdem freute er sich, dass dieser Knoten in seinem Leben sich damit vielleicht endlich auflösen würde.
    Der Zug erreichte Mannheim. Hier musste er umsteigen und hatte zwanzig Minuten Aufenthalt. Er nutzte die Gelegenheit, um eine Zeitung in der Bahnhofshalle zu kaufen. Als sein Blick auf die Schlagzeile fiel, stockte ihm der Atem. »Kill Bill in Berlin!«, stand da. »Junger Amokläufer tötet seine Freundin mit einem
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