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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
Autoren: Hermann Scherm
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Augenblicklich spürte er Angst. Er hatte das Gefühl, als hätte man ihm intravenös ein hochpotentes, gefäßverengendes Mittel injiziert, so vehement verkrampfte das körpereigene Adrenalin sein Gefäßsystem. Er verharrte bewegungslos und lauschte. Nichts, es war ruhig, kein Geräusch, das nicht zu diesem Zimmer gehörte, nur das Pochen seines durch die verengten Gefäße gepressten Blutes.
    Langsam entspannte er sich wieder. Vielleicht hatte er sich doch einfach nur getäuscht, vielleicht hatte er die Fernbedienung ja doch selbst neben den Fernseher gelegt und konnte sich einfach nicht mehr daran erinnern. Sein Blut zirkulierte wieder im Normalmodus. Er schloss die Minibar und ging zur Couch, um sich zu setzen.
    Seit er vor zwei Wochen mit seiner Casio Exilim heimlich einige Probandenunterlagen im Dokumentations-Center von GDT fotografiert hatte, fühlte er sich beobachtet. Er hatte bei der Durchsicht der Unterlagen nichts Ungewöhnliches gefunden, keine Spur von dem, was er erwartet hatte zumindest, aber trotzdem hatte ihn das, was er gelesen hatte, aufs höchste beunruhigt. Er hatte jedenfalls sofort Professor Wohlfahrt, seinen Professor für Neuropsychologie aus seiner Studienzeit, angerufen und sich mit ihm verabredet, um mit ihm über seine Vermutungen zu sprechen. Aber gleich nachdem er den Hörer wieder aufgelegt hatte, war er sich irgendwie bescheuert vorgekommen. Wahrscheinlich bildete er sich das alles wirklich nur ein. Er konnte sich schon vorstellen, wie Professor Wohlfahrt reagieren würde. »Hirngespinste, Langer! Typisch, wie damals in Ihrer Studienzeit, Sie haben sich absolut nicht verändert! Aber da ist nichts dran, vergessen Sie’s! Unsinn ist das!«, hörte er den Professor sagen. Und höchstwahrscheinlich hatte Professor Wohlfahrt damit auch Recht. Das Ganze war Einbildung und löste sich sicher bald in nichts auf.
    Jetzt waren andere Dinge wichtig. Morgen würde er seine Tochter nach über zwanzig Jahren zum ersten Mal wieder sehen. Würde er sie überhaupt erkennen, wenn sie in der Lobby des Hotels auftauchte, oder würde er ihr Handy anklingeln müssen, um sie zu orten? Und würden sie sich verstehen, würden sie eine Basis finden, um den gemeinsamen Abend zu überstehen?
    Er zog den Ring der Cola Light Dose und nahm einen tiefen Zug. Dann stellte er die Tasche von Berlin Bags, die er für seine Tochter gekauft hatte, vor sich auf den Tisch und starrte sie an. Würde ihr das Ding überhaupt gefallen? Wahrscheinlich nicht, er hatte keine Ahnung, wer sie war, und wusste null über ihren Geschmack. Sicher würde sie das Design der Tasche bescheuert finden. Es war Schwachsinn von ihm gewesen, das Ding zu kaufen. Wahrscheinlich würde er sich nicht trauen, ihr das Ding zu geben.
    Er griff, ohne hinzusehen, nach der Cola Light Dose neben sich und verfehlte sie. Verwundert drehte er seinen Kopf Richtung Dose, konnte aber ihre Position nicht mehr deutlich erkennen. Stattdessen tanzte eine Reihe von Nachbildern der Berlin Bag mit ihrem »Stars and Stripes«-Design mit einem großen, grünen Apfel vor seinen Augen. Maßlose Panik erfasste ihn. In Todesangst tastete er mit beiden Händen nach der Dose. Er schaffte es, sie zu greifen, und untersuchte sie. Es musste irgendetwas in der Dose gewesen sein, das für seine plötzlichen Sehstörungen verantwortlich war. Er versuchte, sie mit aller Kraft zu fixieren, um festzustellen, ob sie manipuliert worden war, aber er schaffte es nicht mehr. Sein Sehvermögen nahm mit extremer Geschwindigkeit ab. Mit einem Schlag war ihm klar, dass seine Vermutungen doch richtig gewesen waren. Er suchte nach dem Telefon, um Hilfe zu rufen, konnte es aber nicht finden. Er tastete nach dem Handy in seiner Tasche und wollte einen Notruf absetzen, aber er konnte die Tasten nicht mehr erkennen. Es wurde langsam dunkel vor seinen Augen. Zugleich konnte er sich nicht mehr bewegen. Ich habe doch recht gehabt, dachte er in all dem Wirrwarr. Aber zu spät, ich hätte es früher versuchen sollen. War das sein Ende? Konnte das sein Ende sein? Wie grotesk!

* * *
    Es klopfte, dreimal, dann Stille, zwanzig Sekunden, dreißig Sekunden, dann Antjes Stimme hinter der Tür: »Sarah, beeil dich, wir schaffen das sonst nicht mehr.«
    Sie antwortete nicht.
    »Sarah, mach keinen Blödsinn!« Antjes Stimme klang streng.
    Scheiße, sie hätte nie zusagen dürfen. Jetzt hatte sie Antje am Arsch.
    »In fünf Minuten sind wir unterwegs, sonst gibt’s Ärger!« Antje würde nicht lockerlassen,
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