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Spiel mir das Lied vom Wind

Spiel mir das Lied vom Wind

Titel: Spiel mir das Lied vom Wind
Autoren: Carola Clasen
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wechseln wir das Thema. Aber es fiel ihr absolut nichts ein, ihr brummender Schädel schien völlig leer zu sein, als hätte jemand die Festplatte gelöscht. Ihre Augen verfolgten die Scheibenwischer des Taxis. Ihr gleichmäßiges Hin und Her, begleitet von einem rhythmischen Quietschen, hatte eine hypnotische Wirkung.
    Im Forsthaus schlief Sonja über viele Stunden lang, wurde nur mühsam wach, horchte in sich hinein und stellte verwundert fest, dass dieser Jemand wohl still und heimlich die Festplatte wiederhergestellt hatte. Namen, Orte, Zeiten und Ereignisse der letzten Tage, Wochen und Monate tauchten allmählich wieder auf. Und dann lag alles vor ihr wie ein runder See, der so klar und blank war, dass sie bis auf den Grund sehen konnte.
    Sie stellte das Radio an und erfuhr, dass sie achtzehn Stunden lang geschlafen hatte. Es war bereits Freitag, der 4. September, 13 Uhr. Das Wetter würde vorerst so bleiben, wie es war, meinte der Reporter: herbstlich mit einem Hauch Spätsommer.
    Sonja versorgte im Bad notdürftig ihre Wunden, kramte Peter Reiners Mini-Foto aus der
Truhe der Tränen
und orderte wieder ein ganz bestimmtes Taxi.
    »Köln, Marienburger Straße 247, bitte«, sagte sie zu Sultan Özdemir, als sie einstieg. Er nahm die Hände vom Lenkrad und verschränkte die Arme über der Brust. »Was ist? Wollen Sie nicht den Motor anwerfen? Ich habe keine Zeit zu verlieren.«
    »Nach Köln fahre ich nicht«, verkündete er.
    Was war in der Zeit passiert, als sie im Krankenhaus lag, grübelte Sonja War in Köln die Pest ausgebrochen? War ein Taxifahrer ermordet worden? »Herr Özdemir …«, begann sie und wollte ihm gut zu reden, als er die Wangen aufblies und hervorstieß: »Wegen
ihm!
«
    »Wegen wem?«
    »Ich spreche seinen Namen nicht aus!«
    Um wen konnte es sich handeln? Sonja klopfte sich gegen die Stirn und die Schläfen, um ihr Erinnerungsvermögen in Gang zu bringen. Das Ergebnis war gleich Null. Es musste sich eventuell um eine türkische Familienfehde handeln.
    »Ich hasse ihn«, Özdemir spuckte die Worte aus.
    »Köln ist eine große Stadt«, tröstete sie Özdemir. »Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn er uns dort über den Weg liefe.«
    Er sah sie an, böse, als hätte sie ihm ein unsittliches Angebot im Ramadan gemacht, und seine schwarzen Plüschteddyaugen funkelten finster. »Er ist ja gar nicht mehr in Köln. Leider! Da ist ja genau das Problem!«
    Sonja verstand nichts mehr. »Wollen Sie mir vielleicht während der Fahrt die Geschichte erzählen?«, schlug Sonja vor und legte eine Hand auf seinen Arm.
    Özdemir zuckte zusammen. »Welche Geschichte?«
    »Die Geschichte von diesem Mann?«
    Reden hilft immer, dachte sie zufrieden, als Özdemir sein Navigationsgerät mit Sonjas Angaben fütterte, den Motor anwarf, die Räder durchdrehen ließ und sich in die erste Kurve legte.
    Wolfgarten lag schon lange hinter ihnen, und sie hatte noch nichts begriffen, denn er holte weit aus. Seine Stimme klang aggressiv und enttäuscht zugleich, auf jeden Fall schien der Fall sehr dramatisch zu sein. Özdemir passte seinen Fahrstil seinen Gefühlen an.
    »Sehen Sie«, sagte er und tippte auf ein Emblem, das in Brusthöhe auf seinem T-Shirt prangte. »Ich bin ein Fan von Fehnerbahçe. Ich bin ein Kanarienvogel. Das ist wie eine Religion. Mein Vater hat mich schon vor meiner Geburt in diesem Klub angemeldet. Ein Türke mag die Partei wechseln, aber niemals den Fußballverein. Fehnerbahçe ist ein Klub wie kein anderer. Wir haben sogar im Krieg 1914 gespielt.«
    »Ach? So alt sehen Sie gar nicht aus«, meinte Sonja trocken. Özdemir ignorierte sie und erhob seine Stimme wie zum Gebet. »Wir sind Tabellenspitze. Wir führen die türkische Liga an. Wir sind die Einzigen, die ein eigenes Stadion haben. Galatasaray und Beşiktaş – vergessen Sie sie!« Auf Sonjas fragenden Blick erklärte er: »Das wollen ebenfalls Klubs sein. Nichts da! Wir waren zuerst da! Fehnerbahçe ist seit 1907 auf der Welt!«
    Sonja machte geltend, dass ihres Wissens der 1. FC Köln auch nicht schlecht sei. Das war wohl ein falscher Beitrag, denn Özdemirs Gesichtszüge entglitten, er presste die Lippen aufeinander und schwieg.
    Daran hielt er sich, bis das Navigationsgerät sagte: »Sie haben Ihr Ziel erreicht.« Sonja ahnte immer noch nicht, warum Özdemir nicht nach Köln fahren wollte. Aber er hatte es getan. Er versprach sogar mit wütendem Nicken, am Straßenrand das Ende ihres Besuchs abzuwarten und auf der Rückfahrt zum
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