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Späte Schuld

Späte Schuld

Titel: Späte Schuld
Autoren: David Kessler
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oberflächliches Schulwissen, das man nebenher aufschnappte, während man vom Quarterback der Footballmannschaft träumte.
    Dieses Wissen blieb nicht als einheitliches Bild, sondern als Sammlung von Slogans in ihrem Gedächtnis haften: »We shall overcome«, »I have a dream«, »Power to the people«, »Burn, baby, burn!«. Der Ruf des Zorns hallte nach wie vor durch die Jahrzehnte, wenn auch nur noch schwach. Ein zeitlicher Abgrund trennte Bethel von der aufgewühlten Atmosphäre, die ihr Land damals beinahe auseinandergerissen hätte. Und dieser Abgrund wurde immer breiter, so dass vom durchdringenden Timbre der historischen Stimmen schließlich nur noch der verebbende Nachhall von Helden übrig blieb, an die sich kaum noch jemand erinnerte: Rosa Parks, Martin Luther King, Malcolm X, die Chicago Seven. Für Bethel nichts als Namen und Slogans, ohne Substanz.
    Aber sie mochte den Song. Er war so angenehm eingängig. Bei der eindringlichen Liedzeile am Ende des Refrains, die die jungen Zuhörer dazu aufforderte, innezuhalten und sich umzusehen, bekam sie jedes Mal eine Gänsehaut. Sie hatte nur eine dunkle Ahnung davon, was sie bedeutete. Was auch immer es war, es hatte vor langer Zeit stattgefunden. Ist ja auch egal , dachte sie. Das war die Generation ihrer Großeltern gewesen. Sie selbst gehörte einer anderen Generation an, einer Generation, die mehr damit beschäftigt war, Arbeit zu finden, als damit, die Welt zu verändern.
    Ihr voller Name lautete Bethel Georgia Newton. Was das Aussehen anging, war sie ganz das klassische Cheerleadergirl mit blondierten Haaren, sorgsam kultiviertem Teint und einem Lächeln wie aus der Zahnpastawerbung. Weder zu schlank noch zu drall, sondern ein perfektes »Zwischending« für ihre Größe von knapp eins siebzig; sportlich, aber auf eine weibliche, nicht übertriebene Art, mit durchtrainierten, aber nicht übermäßig muskulösen Beinen. Sie war in einem bürgerlichen Milieu aufgewachsen, weit weg von jeder Straßenkultur, aber was Lebenserfahrung anging, war sie kein unbeschriebenes Blatt mehr. Man konnte sie vielleicht nicht unbedingt als abgeklärt bezeichnen, aber sie hatte bereits einen Blick auf die bittere Seite des Lebens geworfen.
    In ihrem engen weißen T-Shirt und Jeansshorts, die ihre durchtrainierten Kurven nur unzulänglich verbargen, stand sie am Straßenrand und hielt bei jedem vorbeifahrenden Auto den Daumen hoch. So wie ihr T-Shirt sich über ihren vollen Brüsten spannte und die perfekte, satte Bräune ihrer Oberschenkel seidig im kalifornischen Sonnenlicht schimmerte, konnte es doch nicht allzu schwer sein, jemanden zu finden, der sie ein Stück mitnahm. Aber sie musste feststellen, dass die Leute anscheinend panische Angst davor hatten, einer fremden Person am Straßenrand zu helfen.
    Ein paar Meter entfernt stand ihr liegen gebliebenes Auto, und sie konnte nicht mal telefonisch Hilfe anfordern, weil der Akku ihres Handys leer war. Zunächst hatte sie einen halbherzigen Versuch unternommen, das Auto selbst zu reparieren, aber sie verstand nicht wirklich etwas von Motoren. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als einen guten Samariter an den Straßenrand zu winken und ihn zu bitten, sie zu einer Werkstatt mitzunehmen.
    Insgeheim hoffte sie auf einen gutaussehenden Mann mit technischem Geschick und ansehnlichem Vermögen, der sie nicht nur aus ihrer Notlage am Straßenrand rettete, sondern auch aus der Ziellosigkeit und Langeweile, die ihr Leben in letzter Zeit zu bestimmen schienen. Aber sie hätte sich auch mit einem älteren Pärchen zufriedengegeben, das sie bis zur nächsten Telefonzelle mitnahm. Nun, nicht einmal das war ihr vergönnt. Das Leben war unfair.
    Aber dann schien sie doch noch Glück zu haben.
    Ein aquamarinfarbener Mercedes steuerte auf sie zu und bremste, ein neueres Modell aus der exklusiven Sparte der europäischen Automobilindustrie. Der Besitzer war eindeutig wohlhabend und wahrscheinlich jüngeren Alters. Als der Mercedes am Straßenrand zum Stehen kam, sah sie, dass der Fahrer ein Schwarzer war, den sie auf Ende zwanzig schätzte.
    Was meine Eltern jetzt wohl denken würden? , fragte sie sich amüsiert und malte sich aus, wie sie mit dem jungen Mann im Schlepptau bei ihren liberalen Eltern auftauchte.
    Aussprechen würden sie ihre Gedanken natürlich nicht . Sie würden ihn herzlich und gastfreundlich behandeln, aber Bethel fragte sich, ob sie wirklich in der Lage waren zu praktizieren, was sie predigten. Ihr ging auf, dass sie
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