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Späte Schuld

Späte Schuld

Titel: Späte Schuld
Autoren: David Kessler
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ihre Eltern eigentlich gar nicht richtig kannte. Und nun stand sie hier, weit weg von zu Hause, auf der Suche nach sich selbst.
    Der junge Mann beugte sich lächelnd aus dem Autofenster und fragte, ob sie Hilfe brauchte. An seinem selbstbewussten Tonfall erkannte sie, dass er es im Leben zu etwas gebracht hatte. Sie fühlte sich sofort angezogen von seinem jugendlich-guten Aussehen und seiner ruhigen, coolen Selbstsicherheit, auch wenn sein Vokabular noch Spuren einer Herkunft aufwies, die er vermutlich verheimlichen wollte – oder vielleicht nur vergessen.
    Er warf einen Blick unter die Motorhaube, schüttelte nach ungefähr einer Minute den Kopf und sagte: »Mit Motoren stehe ich auf Kriegsfuß. Mit Menschen komme ich irgendwie besser klar.« Mit diesem offenherzigen Eingeständnis und seinem entwaffnenden Lächeln gewann er sie endgültig für sich. Zwei Minuten später saß sie in seinem Wagen, und sie glitten die Straße entlang und lernten sich besser kennen. Bis ihr irgendwann auffiel, dass er von der Hauptstraße abgebogen war.
    Sie wollte fragen, wo sie hinfuhren, aber dann erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf sein Profil und sah, wie sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen. Sie konnte nicht erkennen, ob es ein freundliches Lächeln war. Während sich die ersten Anzeichen einer dunklen Vorahnung in ihrer Magengrube zu einem Knoten ballten, ging ihr auf, dass sie viel zu große Angst hatte, um ihre Frage zu stellen.

Freitag, 5. Juni 2009 – 08.50 Uhr
    »Ich habe Schmetterlinge im Bauch, Gene«, gestand Andi, während sie sich durch die Straßen von Los Angeles schlängelten.
    »Zum Umkehren ist es zu spät.«
    Sie lachten beide. Allmählich entwickelte sich dieser Satz zum Insiderwitz. Es hatte sie beide nervös gemacht, den Big Apple zu verlassen und ein neues Leben an der Westküste zu beginnen, auf der anderen Seite des Kontinents. Aber für Andis Karriere war der Umzug unumgänglich gewesen.
    Andi Phoenix saß schweigend im Auto und brütete nervös vor sich hin. Sie war Ende dreißig und hatte sich ihr gutes Aussehen durch gesunde Ernährung, regelmäßiges Workout und ein wenig plastische Chirurgie bewahrt. Ihre Brüste waren mithilfe von Silikonimplantaten von 70B auf 75D angewachsen, und sie hatte sich bereits einmal Botox spritzen lassen, um die ersten Altersfältchen zu bekämpfen. Aber alles andere war allein ihrer Disziplin und einer gesunden Lebensweise zu verdanken. Das Blond ihrer Haare kam aus der Flasche, denn ihre Originalhaarfarbe war ein unscheinbares Braun. Die neue Haarfarbe war so etwas wie eine Therapie gewesen nach ihrer schwierigen Jugend. Leider brachten all diese Verschönerungen als großen Nachteil die Aufmerksamkeit der Männer mit sich, auf die sie gut hätte verzichten können. Sie war ein paar Zentimeter kleiner als die schwarze Frau auf dem Fahrersitz. Auch sonst hatte sie manchmal das Gefühl, im Schatten ihrer Freundin zu stehen.
    Gene berührte sanft Andis Unterarm. »Denk dran, Süße: Die kennen dich auch noch nicht. Aber sie waren bereit, das Risiko einzugehen und dich herzuholen.«
    Am Steuer saß – auch im übertragenen Sinne – Eugenia Vance, die eins achtzig groß und muskulös war und sie an diesem Morgen spielerisch im Bett niedergerungen hatte, wie üblich.
    Sie hatten sich vor über zwanzig Jahren kennengelernt, als Andi noch ein Teenager gewesen war. Seit Gene Andi durch ihre Krisenjahre geholfen hatte, waren sie unzertrennlich. In all den Jahren, die sie sich kannten, hatten sie nie das Wort »lesbisch« verwendet, um ihre Beziehung zu definieren. Es ging nicht darum, irgendetwas zu leugnen, aber alle ihre Instinkte sträubten sich gegen diese Kategorisierung. Weder Gene noch Andi liebten »Frauen«, sie liebten sich.
    »Trotzdem frage ich mich, ob das Ganze nicht ein großer Fehler war.«
    Schnaubend brachte Gene zum Ausdruck, was sie von Andis Selbstmitleid hielt. »Da hast du dir ja den idealen Zeitpunkt für deine Zweifel ausgesucht, Mädchen!«
    In Kalifornien war Andis Spezialgebiet sehr gefragt. Sie hatte Psychologie im Hauptfach studiert und anschließend ihren Juraabschluss an der juristischen Fakultät der Northeastern University gemacht, in deren progressiver, soziales Engagement unterstützenden Atmosphäre sie regelrecht aufgeblüht war. Nach dem Examen hatte sie jedoch feststellen müssen, dass die Justiz ein nervtötendes Geschäft sein konnte. Ihre Arbeit als Strafverfolgerin bestand weniger aus Prozessarbeit als darin,
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