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Späte Schuld

Späte Schuld

Titel: Späte Schuld
Autoren: David Kessler
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Absprachen mit den Richtern auszuhandeln, was normalerweise bedeutete, dass sich der jeweilige Kriminelle in weniger schweren Anklagepunkten schuldig bekannte, um mit einer milderen Strafe davonzukommen – wohl kaum der Dienst an der Gerechtigkeit, den sie sich vorgestellt hatte, und weit entfernt von den Idealen, die sie ursprünglich dazu bewogen hatten, Juristin zu werden.
    Zugespitzt hatte sich die Lage, nachdem sie sich eine Lungenentzündung eingefangen hatte und gezwungen gewesen war, sich in der Kanzlei, in der sie nach dem Studium eine Stelle gefunden hatte, längere Zeit krankschreiben zu lassen. Als sie an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt war, hatte man sie alles andere als mit offenen Armen empfangen. Das Arbeitsrecht schützte sie zwar vor Kündigung, aber sie wurde immer unverhohlener ausgebootet. Schließlich hatte sie die Kanzlei gewechselt und die darauffolgenden acht Monate damit verbracht, sich in die neuen Fälle einzuarbeiten.
    In dieser Zeit hatte sich ihr Interesse an der Materie geändert. Es gab zwar auch Unschuldige, die Rechtsbeistand brauchten, aber im Wesentlichen bedeutete strafrechtliche Arbeit, dass man den Schuldigen half, und das machte ihr ganz und gar keinen Spaß. Also zog sie die »Wilderer-wird-Wildhüter«-Nummer ab und bewarb sich bei der Staatsanwaltschaft, in der Abteilung für häusliche Gewalt, wo sie sich eine Zeitlang sehr wohlfühlte. Da sie sich wieder ganz von unten hocharbeiten musste, war sie nicht besonders oft im Gerichtssaal. Ihre Aufgabe bestand hauptsächlich im direkten Kontakt mit den Gewaltopfern, im Lesen von Polizeiberichten und im Zusammentragen von Beweisen. Das machte ihr nichts aus. Die Arbeit gab ihr das Gefühl, endlich nützlich zu sein.
    Paradoxerweise setzte ihre zweite Phase der Desillusionierung erst ein, nachdem sie befördert worden war und mehr Zeit im Gerichtssaal verbrachte. Sie tat wieder genau das Gleiche wie vorher, nur dass sie jetzt auf der anderen Seite des Tisches saß und die Verbrecher Absprachen mit ihr aushandelten. Deren Anwälte empfand sie größtenteils als widerliche Typen, und ihr ging auf, wie verachtenswert sie selbst früher den Staatsanwälten als Strafverteidigerin vorgekommen sein musste.
    Zur selben Zeit entwickelte sie ein neues Steckenpferd: die Vertretung von Gewaltopfern vor Gericht. Die zivilrechtliche Vertretung von Gewaltopfern war eine wachsende Branche, und sie wollte nur zu gern an dieser Entwicklung teilhaben. Aber schon bald hatte sie die oberste Karrierestufe erreicht und musste feststellen, dass dieses Spezialgebiet an der Westküste deutlich weiter entwickelt war als an der Ostküste. Der Gedanke, an die Westküste zu ziehen, behagte ihr nicht besonders. Aber dort boten sich ihr ganz andere Karrieremöglichkeiten.
    »Und was ist, wenn ich den Anforderungen nicht gerecht werde?«, fragte Andi, die immer noch auf Bestätigung aus war.
    »Jetzt pass mal auf«, sagte Gene nachdrücklich. »So was will ich von dir nicht hören. Nichts kann dich aufhalten außer deiner eigenen Angst – und wenn du dich von der überwältigen lässt, stehe ich direkt hinter dir und versohle dir deinen hübschen kleinen Hintern.«
    »So klein ist der gar nicht«, protestierte Andi, aber dieses Mal klang es humorvoll und nicht wehleidig.
    An Andis Hintern war in Wahrheit nicht das Geringste auszusetzen, was ihr jedes heißblütige männliche Wesen, das in ihre Nähe kam, nur allzu bereitwillig bestätigt hätte.
    Gene hatte oft etwas Kompromissloses an sich, aber es war genau dieser Glaube, dass man im Leben Entscheidungen treffen und sie bedingungslos durchziehen musste, den Andi so an ihr schätzte. In allen wichtigen Belangen traf Gene für sie beide die Entscheidungen, und so hatte Gene auch entschieden, dass sie von nun an hier in Kalifornien leben würden. Andi hätte nie auf dem Umzug bestanden, so sehr sie ihn sich auch für sich selbst gewünscht hatte. Ihr fehlte immer noch das Selbstvertrauen, das nötig war, um Gene die Stirn zu bieten – mit der Welt nahm sie es auf, mit Gene nicht. Und Gene wusste eben ganz genau, dass Andi nach Kalifornien gehen musste, wenn sie ihre Karriere vorantreiben wollte. Sie selbst hätte gern darauf verzichtet, aber Andi bedeutete ihr zu viel, als dass sie ihr mit ihren persönlichen Interessen im Weg stehen wollte.
    In Anbetracht der Umstände war Gene also bereit, ihre Wurzeln zu kappen und auf der anderen Seite des Landes neu anzufangen. Ein Opfer ist nur dann ein Opfer, wenn man
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