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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Autoren: Ralph Dutli
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Als sie erschrocken auffährt, ist der Maler schon gestorben.
    In der Nacht war er in der Lyautey-Klinik im 16. Stadtbezirk operiert worden. Keiner erinnert sich an die Ankunft des Leichenwagens. Es gibt kein schriftliches Zeugnis, das die Operation belegen könnte. Niemand weiß, ob sie stattfand. Sie bedeutete ein Risiko während der Besatzungszeit, nicht nur medizinisch. Eine geheime Operation an einem unsichtbaren Maler.
    Die beiden Bestatter und Fahrer des Leichenwagens sind nie identifiziert worden. Sie waren plötzlich verschwunden. Der Maler stirbt am 9. August 1943, um sechs Uhr morgens, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Gemeldet wird der Exitus am 11. August 1943 um 10 Uhr im Rathaus des 16. Stadtbezirks durch Monsieur René Magin, vierzig Jahre alt, Angestellter, Rue Mesnil 3, Paris. Sterbeakte Nr. 1799. Es erfolgte keine frühere Meldung, um eine Überprüfung auszuschließen. Die Besatzer brauchten nicht zu wissen, dass ihnen der unsichtbare Maler doch noch entwischt war. Jedenfalls wurde er zu keinem der Bahnhöfe gebracht, von denen die Züge nach Osten fuhren.
    Die ungarische Fotografin Rogi André alias Rosza Klein, die viele Künstler vom Montparnasse porträtiert hatte, wurde von Marie-Berthe in die Klinik gerufen. Es eilt, wir müssen ihn schnell wegschaffen.
    1. Foto im feingestreiften Schlafanzug, Gesicht unrasiert, zusammengelegte Hände, gekreuzte Finger, ein Strauß Gladiolen auf dem Laken.
    2. Foto im Schlafanzug, Großaufnahme des unrasierten Gesichts, unfrisiert.
    3. Foto im schwarzen Anzug, Schuhe an den Füßen, ein Strauß Gladiolen auf den Beinen.
    4. Foto im schwarzen Anzug, mit Krawatte, Großaufnahme des Gesichts, rasiert und frisiert.
    Die Finger waren nicht mehr sauber zu bekommen, sie waren unwiderruflich gekennzeichnet. Die Farbe, die seine Fingernägel ränderte, war tief in Haut und Nagelbett eingelassen und verkrustet. Seine Hände bleiben für immer verschmutzt. Buntes Brandzeichen für das weiße Jenseits. Keine Reinheit mehr, nie wieder. Soll jeder erkennen, wer er war, der abwesende Gott als Erster. Mag er die Nase rümpfen über den Schmutz. Jerome Klein schreibt 1936 in der
New York Post:
Van Gogh entblößte sein Herz. Soutine entblößt seine Eingeweide.
    Der Maler entblößte auf dem Totenbett seine für immer farbigen Finger. Kleiner Nachtrag für Doktor Bog.
    Das Begräbnis findet zwei Tage nach dem Ableben des Malers statt. Am Mittwoch, 11. August 1943, 14 Uhr. Selbst die Todesanzeige ist ein Vertuschungsversuch. Marie-Berthe hatte sie drucken lassen, im letzten Moment »Friedhof Père-Lachaise« von Hand durchgestrichen und »Montparnasse« darübergeschrieben. Noch ein Mittel, die Besatzer und ihre Spitzel zu narren, Spuren zu verwischen, das Begräbnis geheimzuhalten. Anwesende: Pablo Picasso, Jean Cocteau, Max Jacob. Und zwei Frauen: Gerda Groth-Michaelis und Marie-Berthe Aurenche. Es war zunächst ein anonymes Grab, nicht unpassend für einen unsichtbaren Maler. Erst nach dem Krieg bekommt es einen Namen, in falscher Schreibung: Chaïme Soutine.
    Es war der Nordeingang, den seine Malerseele durch die Fensterluken des Gemüsetransporters deutlich wahrnahm. Ja, sie kamen vom Boulevard Edgar Quinet her. Als eine weißrote Schranke aufgehoben wurde, wusste er, dass er in die Totenstadt einfuhr, in den Friedhof Montparnasse. Da geschah etwas, was er sich nie hätte träumen lassen.
    Die Flügel des grünen Lieferwagens öffneten sich leise, kein Klicken mehr, kein Geräusch. Seine Seele glitt scheu hinaus, flog erleichtert hinauf, alle Schrecken der Besatzungszeit, alle Verstecke und blutenden Magenwände hinter sich lassend. Ein Dichter und Landsmann wird es einmal so beschreiben:
    Sag Seele … sag mir wie das Leben denn … so aussah aus der Vogelperspektive …
    Sie flog hoch hinauf und drehte genießerisch ein paar Runden über den Prachtstraßen dieses großzügigen Friedhofs. Fliegen, das war es, was seine Seele immer gewollt hatte, als sie eingeschlossen war im engen Gefängnis seines mageren Körpers. Fliegen, immer nach oben, in einem starken, die Seele durchlüftenden Sog. Zu den Spitzen der Bäume und darüber hinaus, wie damals, als er in seiner vergessenen Kindheit am Rücken den sandigen baltischen Waldboden spürte und unverwandt nach oben schaute, bis der Hunger ihn nach Hause trieb.
    Seine Seele sah den ganzen Friedhof sich verbiegen und verzerren, wie er einst die Hügel von Céret in einem gewaltigen Aufruhr, inmitten eines
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