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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Autoren: Ralph Dutli
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schwächer werden.
    Verräter!
    Das Wort hallt in seinen Ohren, doch es gibt nichts mehr zu verhandeln mit dem Vergangenen, er ist hier, es gibt nur Leinwand und Pinsel, der Rest der Welt ist verschwunden. Aber die Krankenschwester mit den Augen Deborah Melniks, die ihn im untersten Geschoss des Heizungskellers beim verbotenen Malen überrascht hat, bleibt nicht untätig und meldet den Vorfall der Klinikleitung. Jeder Verrat ruft nach einem weiteren Verrat, jede Verletzung erzeugt eine neue, nächste. So bleibt die Erde am Drehen.
    Doktor Bogs Gesicht verzerrt sich zu einer bitteren Grimasse, in der ein enttäuschtes Lächeln zuckt, dann ruft er, überwältigt vom Zorn, aus:
    Der Undankbare! Der Verräter! Warum musste er noch malen? Wozu hat er das gebraucht? Er war doch geheilt! Geheilt! Er hätte für immer in der Klinik bleiben dürfen, für immer! Jetzt aber weg mit ihm!
    Und er bestätigt mit seiner rasch hingeworfenen Unterschrift Chaim Soutines Vertreibung aus dem weißen Paradies. Zwei menschenähnliche Riesenschränke kommen ins Zimmer getrampelt, sie können sich kaum gerade halten vor lauter Muskelpaketen um ihre Beine. Sie gleichen den Michelin-Männchen von der Reifenwerbung, zwei weißgekleidete
Bibendums
aus Muskelreifen, riesenhaft aufgeschwollene Glatzköpfe mit blitzenden Augen, die ihn streng fixieren und dann froh lächeln, dass sie endlich in Aktion treten dürfen.
    Sie erinnern den Maler an die Ausflüge zu Catch-Kämpfen in die Winterradrennbahn, die er mit Michonze, Benatov und Henry Miller und manchmal auch Mademoiselle Garde gerne samstags unternahm. Wie er erregt auf die zupackenden, kneifenden, wie Schraubstöcke die geröteten Hälse pressenden Muskelmassen starrte, auf denen der Schweiß helle Spiegelflächen malte. Soutine nahm sein Opernfernglas, um die verkeilten Muskelpakete genauer zu betrachten. Die Catcher machten das rohe menschliche Fleisch deutlich sichtbar, und der Maler dankte es ihnen. Nach diesen Kämpfen war er erschöpft, schlich mit Garde zurück in die Villa Seurat, konnte kein Wort hervorbringen und trank nur Kamillentee.
    Jetzt kamen sie also hereingelaufen zum geheilten Maler, rissen die schneeweißen Laken von seinen Beinen, hakten ihn unter, rissen ihn hoch, stellten ihn schnurstracks aufrecht, zerrten ihn auf den Flur hinaus und dann die Treppen hinunter. Er brauchte kaum zu laufen, sie trugen ihn mit Riesenschritten fort, die eine Hand unter seine Achselhöhlen gepresst, die andere wie ein Schraubstock um das Handgelenk. Sie laufen schnell die Treppen hinunter, die auch er genommen hatte während seiner nächtlichen Ausflüge in den Heizungskeller, zum Ort seiner Sünde, wo er zu seinem letzten Glück die gequetschten Maltuben gefunden hatte.
    Die Flügel der Hintertür eines Lieferwagens wurden aufgerissen, der Maler las klar und deutlich FRÜCHTE UND GEMÜSE in schwungvollen Lettern. Es war das Modell
Corbillard
von Citroën, er hatte das Auto schon einmal gesehen, aber ganz in schwarz. Jetzt war es offensichtlich frisch gestrichen.
    Grün! Endlich Farbe! seufzte der von den robusten Michelin-Männern Gepackte.
    Er wurde ruppig in den Wagen gestoßen, auf die Ladefläche gepresst und mit breiten Gurten festgeschnallt. Die glatzköpfigen Catcher warfen mit einer kräftigen Bewegung die beiden Flügel der Hintertür zu. Ein scharfes Klicken wie von einer Waffe, ein trockenes Einschnappen ins wartende Schloss. Ein Ruck ging durch das Auto, aufgeschreckte Tauben flogen voller Panik über das Dach der weißen Klinik ins Blaue hinauf. Ja, das Weiße begann zurückzuweichen, das Blaue nahm überhand an diesem neunten Augusttag. Und schon fuhr der Fahrer los. Der zürnende Doktor Bog hatte den Catchern zugerufen:
    Ihr wisst, wohin!
    Ja, sie wussten es. Und auch der Maler kannte alle Wege dieser Stadt, wie oft war er nachts, wenn er nicht schlafen konnte, nach quälenden Stunden vor der unbezwingbaren Leinwand, allein mit dem Schmerz im Oberbauch, mit Riesenschritten durch die Straßen gelaufen, die Boulevards meidend, durch finstere Gassen hastend, um Erschöpfung zu finden, um das Herz von aller Malerei zu leeren. Um dann keuchend zurückzukommen und sich entkräftet auf die Matratze zu werfen.
    Marie-Berthe hatte an seinem Bett gewacht nach der Operation. Sie war erschöpft von der endlosen Fahrt im Leichenwagen. War es ein voller Tag gewesen, waren es zwei? Jetzt kippte ihr Kopf zur Seite auf Soutines Bett, er lag bei seinen Füßen auf dem Laken. Sie schlief fest.
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