Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Autoren: Ralph Dutli
Vom Netzwerk:
Gesichter ab, fieberhaft, seine träumenden Fingerkuppen würden es gleich erkennen. Er fühlt diese Augen, ihren Schnitt, ihre Dunkelheit langsam zu ihm zurückkehren. Minsk? Wilna? Montparnasse? Plötzlich dämmert es ihm, er erkennt sie noch in dieser weißen Krankenschwesterkluft, in ihren weißen Schuhen.
    Sie hat die Augen von Deborah Melnik, ihren traurigen Mund, den er in Wilna eines Abends flüchtig und voller Angst geküsst hatte, als er sie vom Konservatorium abholte, um sie schweigend nach Hause zu begleiten, zu ihren Eltern. Sie wohnten gleich neben der Kunstakademie, sie war sechzehn, oder erst vierzehn? Sie ging aufs Gymnasium, wollte Sängerin werden, besuchte Kurse am Konservatorium. Ihre schwarzen Augen, ihre Blässe, ihr kehliges kurzes Lachen. Sie sprachen manchmal voller Verlegenheit miteinander, unten am Toreingang. Er hatte Angst vor Küssen wie vor Bienen.
    Ja, sie trug den Namen der Prophetin aus dem Buch der Richter. Deborah, die Biene, die von der Zukunft weiß. Aber er verscheucht jetzt das Gesicht wieder, sein zerschlissener Rucksack steht schon gepackt in der Ecke, Krem und Kiko sind bereits in Paris und rufen ihn zu sich. Komm endlich in die Welthauptstadt.
    Dann war sie 1924 am Montparnasse wieder aufgetaucht, jeder Weg aus Wilna schien nach Paris zu führen, sie wollte noch immer Sängerin werden, sie träumte hörbar davon, Paris mit ihrer Stimme zu beglücken. Es war im Dôme oder in der Rotonde, wie alles, was in dieser Stadt anfängt. Sie sprachen von damals, aber er hatte kein Heimweh nach dort, er war hier und nur hier, und er wollte nie wieder weg. Eine einschmeichelnde Intimität schwebte über ihren Köpfen, ein zartes Tuscheln, etwas scheinbar Gemeinsames, nur zwischen ihnen Geteiltes, und wenn es auch nur die Erinnerung an ein paar Straßen Wilnas war, ein langer dunkler Durchgang in den Hof, wo er sie scheu geküsst hatte.
    Doch er macht eine abweisende Handbewegung in die Luft, als müsste er einen Dybbuk verscheuchen, als wollte er Spinnenfäden aus dem Gesicht wischen. Warum war sie wiederaufgetaucht? Sie gehört nach Wilna, es ist ein furchtbares Missverständnis, wenn Frauen aus einer anderen Zeit auftauchen und sich in dein Leben drängen. Hier bin ich, weißt du noch: früher. Er aber will kein Weißt-du-noch. Wilna war nur ein Trittbrett gewesen, auf das man rasch seinen Fuß setzte, aufsprang, um endlich in der Zukunft anzukommen. Kein Weg führte dorthin zurück. Hörst du? Keiner.
    Dann gingen sie lange zu Fuß durch die Nacht, irrten umher, liefen auf seltsamen, zögerlichen Bahnen durch das Viertel. Sie wollte sich nicht verscheuchen lassen. Sie waren in einem winzigen Hotel am Boulevard Raspail, das Atelier war zu verdreckt. Als sie am Morgen auseinandergingen, lief er wie vor einem lästigen Schatten davon. Am 10. Juni 1925 kam ihre Tochter zur Welt. Aimée, wie zum Hohn hatte sie die Tochter Aimée genannt. Es war eine deutliche Forderung, sie sollte geliebt werden und ihre Tochter mit ihr. Er aber wollte sie nicht einmal sehen, stritt ab, ihr Vater zu sein. Einer vom Montparnasse sagte in den Dreißigern: Als ob sie dir aus dem Gesicht geschnitten wäre!
    Wer denn? Ich habe keine Tochter, lasst mich in Ruhe!
    Er wollte sie nicht sehen, aber ihr Gesicht sah ihn von jetzt an immer und überall. Als wollte das Schicksal ihn verhöhnen, hinterließ es im Gesicht seiner Tochter seine unverkennbaren Augen, seine Nase, seine Lippen, seinen Mund. Er schickte sie mitsamt ihrer Mutter weg aus seinem Leben, irgendwohin, wo es ihn nicht gab. Nur er entschied, welche Figuren auf der Leinwand seines Lebens sichtbar werden sollten und welche zu verschwinden hatten. Das Schicksal hatte nichts zu sagen, er entschied über die Farben. Auf jeder Leinwand war er sein eigener, gepeinigter König.
    Es war das erste Jahr, in dem er glaubte, endlich in Paris angekommen zu sein. Zbo hatte nach dem Überfall des Pharmazeuten aus Philadelphia eine ganze Reihe weiterer Bilder verkauft, andere Amerikaner kamen nach Paris, fragten nach diesem Soutine, sein Wert stieg rasch, Zbo setzte jetzt drei, noch lieber vier Nullen hinter die alten Kaufpreise. Und er lebte eine Zeitlang in einem Zustand grandioser simulierter Wohlhabenheit.
    Es ist die Zeit eines Triumphs. Marcellin und Madeleine Castaing tauchen wieder auf am Horizont, umwerben ihn, nachdem sie sich bei der ersten Begegnung gleich überworfen hatten. Anfang der Zwanziger trafen sie sich in einem kleinen Café an der Rue Campagne
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher