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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Autoren: Ralph Dutli
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verraten?
    Unnötig. Sie können mich nicht kennen.
    Sagen Sie ihn mir trotzdem, Namen erfreuen das Gedächtnis.
    Armand Merle.
    Der Name sagte mir nichts. Aber ich freute mich, einer Amsel begegnet zu sein. Warum nicht? Vogelnamen haben immer etwas Luftiges, sofort springt Gesang ins Ohr.
    Wer sind Sie? Zu welcher Polizei gehörten Sie damals?
    Doch dieser Merle fuhr mit einem deutlich frechen Unterton fort:
    Machen Sie sich nicht lustig über Menschen, die andere Menschen beobachten. Sie haben ihre Gründe, wenn sie bestimmte Akten anlegen, eine Ermittlung führen, ein Detail ums andere zum Mosaik fügen und es allmählich vervollständigen. Und Sie selber sind wohl nur einer dieser windigen Autoren, die ein paar nackte Fakten und zweifelhafte Anekdoten aufpicken und sich dann die Dinge aus den Fingern saugen. Und ihre schamlosen Erfindungen in die Welt setzen.
    Ich wollte protestieren, doch er sprach schon weiter:
    Bilden Sie sich nichts ein. Halten Sie sich nicht für etwas Besseres als die fleißigen Agenten der Geheimpolizeien der Welt. Nur die sind der Wahrheit verpflichtet, nicht Sie. Nur sie treiben die generelle Ermittlung voran. Die Welt ist dazu geschaffen, in einem großen, allumfassenden Prozess zu enden. Nicht in einem Roman. Schriftsteller sind nichts als Lügner.
    Ich konnte mich nicht einmal beleidigt fühlen, er hatte ja vielleicht sogar recht. Und er wäre ohnehin durch keinerlei Einwände zu stoppen gewesen. Also redete er unaufhörlich weiter:
    Wir versetzen uns in die Köpfe der Subjekte, über die wir ermitteln. Wir müssen alles von ihnen wissen. Auch wenn ich Ihnen gestehen muss: Es gibt keine Psychologie. Sie ist bloße Einbildung. Es gibt in den Köpfen keine Muster zu finden. Jeder Kopf ist anders. Der Mensch ist voller Widersprüche, nichts ist vorhersehbar. Jede Handlung ist bizarr und unerklärlich. Ich habe es erst am Ende meiner Karriere erkannt. Glauben Sie mir: Sie haben kein Recht, sich in den Kopf eines anderen zu versetzen. Er war es nicht. Er ist ein anderer. Sie werden vielleicht einmal ein ganzes Buch über die letzten Tages des Malers schreiben. Ich habe es ebenfalls versucht, doch bin ich bei meinen Mappen geblieben. Die Zeit ist zu kurz.
    Sie waren wohl ein Spitzel, haben Soutines Beerdigung aus sicherer Distanz beobachtet, haben sich die Namen notiert, die Sie kennen konnten? Vielleicht gar Fotos gemacht? Kann ich sie sehen? Die drei Männer werden Sie erkannt haben? Aber die beiden Frauen? Doch vielleicht gab es von ihnen bereits welche in Ihrer Mappe, die Ihnen die Identifizierung erleichtern sollten?
    Er ging mit keinem Wort auf meine Fragen ein, sondern fuhr kaltschnäuzig fort, als ein literarisch offenbar bewanderter Geheimagent:
    Der innere Monolog bringt Ihnen nichts, Sie werden es erkennen. Sie werden sehen, dass er unzulässig ist. Es ist die falsche Perspektive. Und seine Entdeckung ist die größte Lüge im Lügenreich der Literatur. Sie können sich nicht in einen Menschen hineinbegeben und in seinem Namen losplappern, das wäre das größte Verbrechen. Und noch etwas: Er war ein großer Schweiger. Dichten Sie einem Schweiger nichts an. Er will es nicht. Wenn Sie von den Schnörkeln der Poesie nicht lassen können, suchen Sie sie anderswo. Sie werden Ihr Scheitern erkennen und werden das Buch noch einmal schreiben müssen. Von Anfang bis Ende. Nirgends ein Ich, nur ein Er. Nirgends reine Vergangenheit, nur unreine Gegenwart. Sie werden alle Ratschläge missachten und es dann bitter bereuen, weil Sie bei Ihrer Ermittlung wieder von vorne anfangen müssen. Das geschieht Ihnen recht. Sie werden sich an mich erinnern und sich selber verfluchen, dass Sie den Rat eines Praktikers missachtet haben. Ich halte fest: keinen inneren Monolog. Er schadet der Ermittlung. Keine Versetzung Ihrer Stimme in den Kopf eines Schweigers. Lassen Sie das.
    Jetzt drehte er sich um, grüßte wieder nicht und verschwand beleidigt zwischen den Gräbern. Schon nach zehn Sekunden war er nirgends mehr zu sehen.
    Aber ein Grab war mir immer das liebste, als ich damals auf meinen vertrauten Routen ging und die Stationen einer luftigen Totengeographie anlief. Ich wollte auch diesmal meine liebste Pariser Nekropole nicht verlassen, ohne es aufgesucht zu haben. Es musste sein, nach der seltsamen Begegnung mit dem alten Herrn. Es trägt den schönsten Grabspruch, den sich der gesamte Friedhof hat ausdenken können. Das Grab gehört César Vallejo, einem peruanischen Dichter, der aus einem Dorf
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