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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Autoren: Ralph Dutli
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in den Anden stammte und den es 1923 nach Paris verschlug. Er träumte von einem brüderlichen republikanischen Spanien und starb 1938 an den Spätfolgen einer Malariainfektion. Keiner hat mehr Poesie auf einen Stein geträumt: Ich habe soviel geschneit, damit du schlafen kannst.
J’ai tant neigé pour que tu dormes
. Schneien und Schlafen … Das Ich als Witterungsverhältnis und ein zärtlich umhegtes Du, das in den Schlaf gewiegt werden soll. Weil es immerzu schlaflos ist.
    Aber an jenem Tag fand ich das Grab nicht sofort, was mir noch nie passiert war. Ich war verwirrt und ärgerte mich über mich. War schon so viel Zeit vergangen? War ich auf dem falschen Friedhof? In den Achtzigern, als ich noch hier wohnte, hatte ich einen inneren Kompass, um in diesem Meer von Gräbern die richtige Stelle anzulaufen. War der Kompass verloren, die Nadel kaputt? Ich wandte mich an einen der uniformierten Friedhofsbeamten, die hier den Tod bewachen.
    Und was, wenn der Schmerz nach dem Tod nicht aufhört?
    Der an seinem ewigen Peru weltweiter Ungerechtigkeit leidende Dichter hat
Die neun Ungeheuer
geschrieben. Jetzt sind sie vereint in diesem Syndikat der Stimmen auf dem Friedhof Montparnasse, und der Peruaner des Schmerzes singt es dem Sohn des Flickschneiders aus dem weißrussischen Smilowitschi ins erschrockene große rote Ohr:
    Und gnadenlos
    wächst der Schmerz in der Welt mit jedem Moment,
    wächst um dreißig Minuten mit jeder Sekunde,
    Schritt um Schritt,
    und die Natur des Schmerzes ist zweifach Schmerz,
    und die Bedingung des Martyriums,
    fleischfressend, heißhungrig,
    ist der Zweifachschmerz,
    und die Funktion des reinsten Grases – Zweifachschmerz,
    und das Gute des Lebens schmerzt uns doppelt.
    Niemals, ihr menschlichen Menschen,
    gab es so viel Schmerz in der Brust,
    im Knopfloch, in der Brieftasche,
    im Glas, in der Fleischerei, in der Arithmetik!
    Niemals so viel schmerzhafte Zuneigung,
    niemals schlug das Entfernte so nah ein,
    niemals spielte das Feuer
    besser seine Rolle des kalten Toten!
    Niemals, Herr Gesundheitsminister,
    war die Gesundheit tödlicher,
    niemals riss die Migräne soviel Stirn aus der Stirn!
    Und das Möbel fand in seinem Verschlag – Schmerz,
    das Herz in seinem Verschlag – Schmerz,
    die Eidechse in ihrem Verschlag – Schmerz.
    …
    Der Schmerz packt uns, ihr Menschenbrüder,
    von hinten, von der Seite,
    und bringt uns um den Verstand in den Kinos,
    nagelt uns auf die Grammophone,
    lässt uns stürzen in unseren Betten, fällt steil herab
    auf unsere Fahrkarten, auf unsere Briefe;
    und es ist grausam zu leiden, mag einer auch beten …
    Als ich endlich beim Grab des Peruaners angekommen war, kritzelte ich mit einem Bleistiftstummel auf die Rückseite zweier Einkaufscoupons aus dem nahegelegenen MONOPRIX. Ich hatte nichts anderes dabei, konnte die Hosentaschen noch so lange umdrehen. Babel, das nackte Jahr, Sertürners Mohnsaft. Keiner kann anders als er ist. Am Himmel über Montparnasse steht als geißelgetriebenes Gestirn
Helicobacter pylori
. Wer der Kindheit entkommt, darf kein Paradies erwarten.
A mentsch on glick is a tojter mentsch
. Die einzige Erlösung gibt es nicht. Die einzige Lösung ist die Farbe. Sie ist die letzte mögliche Religion. Nein, ich hatte mich verschrieben: Rebellion. Ihre roten Heiligen sind: Zinnober, Karmesin, Drachenblut, Roter Ocker, Indischrot, Marsrot, Pompejanischrot, Purpur, Amarant, Kirschrot, Krapprot, Rubin, Inkarnat. Wer aber ist Armand Merle?

Der Autor dankt der Kulturstiftung Pro Helvetia
für die Förderung seiner Arbeit an diesem Buch.
    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
    © Wallstein Verlag, Göttingen 2013
www.wallstein-verlag.de
    Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond
Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf
unter Verwendung des Ölbildes Chaim Soutine:
Der Konditorjunge von Céret, 1919
Druck und Verarbeitung: Friedrich Pustet, Regensburg
    ISBN (Print) 978-3-8353-1208-1
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2356-8
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2357-5
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