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Sonntag bis Mittwoch

Sonntag bis Mittwoch

Titel: Sonntag bis Mittwoch
Autoren: Joseph Hayes
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eingedenk der Ermahnungen, die mir mein Leben lang zuteil geworden waren: von meinem sanftmütigen Vater, den am Ende eine unnatürliche Wut zerfressen hatte, die ich nicht begriff; von meinen Lehrern, die ihn Jähzorn genannt hatten; von meinen Professoren, die mich gewarnt hatten, daß er für einen Anwalt der gefährlichste und selbstzerstörerischste Charakterzug sei; und von Lydia, die entweder darüber hinwegging oder ihn ins Lächerliche zog, wodurch sie ihn oft erst richtig entfachte. Jetzt erkannte ich wieder die Sturmzeichen: die langsam in mir aufquellende Hitze, meine unwillkürliche Verkrampfung, die lähmende Blutleere im Gehirn. Ich setzte mein Glas an die Lippen, um den sauren Geschmack hinunterzuspülen.
    »Sie ist hübsch«, sagte das Mädchen und fügte unsicher hinzu: »Ziemlich. Jedenfalls ihr Gesicht.« Als ich aufblickte, sah ich, wie sie das Porträt Lydias über dem Kaminsims betrachtete. »Wie sieht sie sonst aus?«
    Ich wagte nicht, das mir in jedem Detail vertraute Gemälde anzusehen: den blassen, blonden Kopf mit der gesammelten Haltung, die zierlichen, feingemeißelten Gesichtszüge, diese merkwürdig ergreifende Mischung von Wehmut, feinem Humor und fraulicher Kraft, die ihr zartes Gesicht ausstrahlte. »Es ist meine Frau«, sagte ich gleichmütig. »Und alt genug, um Ihre Mutter zu sein. Genau so, wie ich Ihr Vater sein könnte.«
    »Bist du aber nicht.« Sie kicherte. »Nicht, daß es etwas ausmachen würde. Ist sie ein Aas?«
    »Was?«
    »Ob Sie ein Aas ist? Sie erinnert mich an meine Mutter.« Der bittere Geschmack in meinem Mund wurde ätzend. »Sie ist kein Aas.« Ich vernahm die mit Nachdruck gesprochenen Worte, als stammten sie nicht von mir. »Sie ist weder im engeren noch im weiteren Sinne ein Aas, und ich liebe sie.« Ich zögerte unmerklich. »Ich liebe sie, und ich bin außerdem in sie verliebt.«
    »Klar«, erwiderte das Mädchen. Es lag kein Spott in ihrem Ton, nur eine Art müder Anerkennung. »Klar. Aber sie ist trotzdem ein Aas.«
    »Sie kennen sie ja gar nicht«, knurrte ich.
    »Ich kenne meine Mutter.«
    Ich mußte lachen. Wes Geistes Kind hatte ich da vor mir?
    Sie wandte den Kopf, ihr Blick traf meinen. Ihre Augen waren entschieden braun. »Du bist noch nicht alt.« Sie traf diese Feststellung voller Ernst. »Bogey war vierundfünfzig, als er sich scheiden ließ.«
    »Wer?« Mir brummte der Kopf.
    »Bogey. Du weißt schon. Schade, daß du keine Glatze hast. Kahle Männer sind aufregender.«
    Unwillkürlich strich ich mit der Hand über meine kurz geschnittenen Haare. »Hören Sie«, sagte ich weniger giftig, »ich bitte sogar um Verzeihung, daß ich nicht kahlköpfig bin, wenn Sie jetzt machen, daß Sie hinauskommen.«
    »Bogey war kahl. Er trug ein Toupe. Das weiß jeder.« Sie räkelte sich mit hoch aufgereckten Armen und vorgeschobenen Brüsten. »Du willst ja gar nicht, daß ich gehe.«
    Ich mußte mich gewaltsam beherrschen, um sie nicht hochzuheben und vor die Tür zu setzen.
    »Ist sie gut im Bett?«
    Die Situation wurde immer absurder und grotesker. Dachte diese Göre etwa, ich würde tatenlos zusehen und mit ihr debattieren – »Du hast meine Frage nicht beantwortet –«
    Innerlich beschäftigte ich mich mit der Frage. Hinter Lydias herber Art und ihrem schlichten Auftreten lagen eine frauliche Wärme und eine emotionelle Intensität verborgen, die mich nach zwanzig Jahren noch immer erstaunten und entzückten.
    Ein triumphierendes Lachen verbeißend, sagte ich: »Sie können mich –«
    Sie nahm daran keinen Anstoß, zuckte nur mit den Achseln. »Du hast mir nicht einmal einen Drink angeboten.«
    »Sie nehmen sich allerhand heraus«, erwiderte ich. »Sie waren nicht eingeladen, weder auf einen Drink noch zu sonst etwas.«
    Sie erhob sich, warf den Kopf zurück, daß ihre schwarze Mähne flog, stieß einen unverständlichen Kehllaut aus – Verachtung? Spaß? Was? – und schlenderte schlaksig zur Bar hinüber. »Es könnte dir leid tun.« Wieder durchzuckte mich Wut. Das Zimmer erschien mir plötzlich unerträglich heiß. »Soll das eine Drohung sein?«
    »Spiel ruhig den wilden Mann«, sagte sie. »Ich hab' das gern.«
    Dank dem Alkohol, der meine Wut anfachte, und der stickigen Hitze im Zimmer, die mir den Atem nahm, konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, eine undefinierbare und doch sehr endgültige Linie oder Grenze überschritten zu haben und mich in einem fremden, feindseligen Land zu befinden, dessen Sprache ich nicht einmal
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