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Sonnenscheinpferd

Sonnenscheinpferd

Titel: Sonnenscheinpferd
Autoren: Steinunn Sigurðardóttir
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wegen?)

    Der Zeitpunkt spielt eine Rolle, denn die Zeit gab es. Man konnte von der Zeit sagen, dass sie existierte. Das Leben war bloß nicht aus ihr gemacht. Das Leben war die Zeit. Die Zeit war nicht das Leben, doch das ist eine andere Geschichte.

    Sie konnte nicht anders als sich bemitleiden. Das war nicht fair.

    Aber es geht nie um Fairness, wie irgendein Ungeheuer gesagt hat.

    Niemand hatte ihr Fairness versprochen.

    Sie konnte nichts dafür, dass ihr das wehtat.

    Wie nah sie am Ziel war. Das Dach war schon zu sehen – hellblau – auf einem Sommerhaus, das die Mutter in der Schulstraße
Glückshang
getauft hatte.
    ***
    Sie wickelte den Kern in die Sätze ein

    ALLES WAR UMSONST

    DOPPELTE ARBEIT MIT HAUPTSÜNDE

    WIE DIE BEISPIELE ZEIGEN

    Hätte es eine Galgenfrist gegeben, hätte sie sich wortreicher ausgedrückt. Mehr Kerne gefunden. Vielleicht.

    Vor vollendeter Tatsache stehen.

    Niemand versteht eine vollendete Tatsache, bevor sie sich einstellt.

    Vollendete Tatsache.

    Jetzt stand sie vor dieser Tatsache. Sie war vollendet.

    War das traurig.

    Ging es überhaupt um diese Frage.

    Doch, es war zu früh.

    Na und?

    Kam diese Stunde nicht immer unpassend?

    War das nicht ihr eigener Gedanke, dass diese Stunde immer unpassend kam?

    So unpassend, dass sie nicht einmal Zeit haben würde, sich selber angemessen zu bemitleiden. Sie wäre bereits ganz und gar hinübergegangen, bevor sie noch den Blutgeschmack lauwarmen Selbstmitleids schmecken würde. Am meisten deswegen, weil sie zwangsläufig sterben musste, da sie ja nun einmal geboren war, und das ausgerechnet jetzt, wo endlich das blaue Dach in Sicht war. Und der Gletscherin seiner schönsten Form unter keiner Wolke am Himmel, genau von dieser Stelle auf der Straße aus. Das Bühnenbild am Ende des Wegs nahezu höhnisch in all der Pracht.

    Es ist wahr. Du wirst weiterhin existieren. Aber vielleicht nicht immer. Die Gletscher schmelzen schon so heftig.

    Nicht einmal darauf ist Verlass, dass dieser Gletscher so lange lebt, wie die Erde sich kugelt, und erst recht ist es kein Trost.
    ***
    Meine Liebe von einstmals, eine neue Zeit ist gekommen. Das hatte sie im Geiste wieder und wieder zu ihm gesagt, nachdem sie beinahe seinen Schatten auf dem Spitalstieg überfahren hatte.

    Neue Zeiten, meine Liebe, das stimmte. Aber in dieser Zeit würde sie höchstens sein, indem sie in sie abtauchte.
    ***
    Die Zeit wird zwei- und dreierlei …

    Und die Zeit wird neu …

    Dich lieb ich darum getreu.

    Weiter sausen die Jahre
    Wie Wolken wild und scheu

    Die Zeit wird zwei- und dreierlei
    Und sie wird wieder neu

    Dich liebe ich darum …
    ***
    Sie war bei fünfhundert Todesstunden dabei gewesen. Am Rigshospitalet in Kopenhagen, am Landspítalinn. Sie hatte alles so gut wie möglich einzurichten versucht, damit sich alles auf den Sterbenden konzentrierte.
    Oft hatte sie darüber nachgedacht, wie sie selber damit umgehen würde, wenn es so weit war. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass sie den Tod verpassen würde. Dass es ihr verwehrt sein würde, auf menschliche Weise zu sterben, auf irgendeinem Sterbebett. Mit angemessener Vorbereitung. Stattdessen in einem Straßengraben. Manchmal hatte sie so dahergeredet:
irgendwo im Graben sterben
, hatte sie gesagt, halbwegs im Scherz.
    Unnur und Ása war es nicht vergönnt, sich mit dem Tod der Mutter auszusöhnen, die sterben musste, weil sie zum Beispiel zu krank oder zu alt oder zu irgendwas war. Die Töchter hatten nicht den Trost, dass es für die Mutter am besten war, hinübergehen zu dürfen.
    Sie hatte sich gefürchtet und geängstigt vor einem ausgezehrten Körper, vor Lähmung und Therapien und Operationen und mehr als einem Sterbelager. Gleichzeitig hatte sie gewusst, wie es auf solchen Sterbelagern zuging und wie zu verfahren war. Jetzt konnte sie sich von all dem, was sie zum Thema Sterben gelernt hatte, nichts zunutze machen. Die Expertin höchstpersönlich. Betrogen um den Tod. Schäbig. Schäbig.

    Schäbig auch Unnur und Ása gegenüber. Sie waren in dem Alter, in dem die «Mama» noch nicht eine Person ist. Bis sie die Nachricht erhielten, war sie immer nur die Mama. Ab jetzt würde sich das Leben der Töchter zu viel um die «Mama» drehen. Wenn sie selber Kinder bekämen, würden sie darüber weinen, dass «Oma» sie nie zu sehen bekäme. Den Kindern wäre es natürlich egal.
    Wenn die Kinder größer würden, bekämen sie Bilder von der Großmutter gezeigt, und Unnur und Ása würden sagen,
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