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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
Autoren: Walter Kempowski
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versucht, in Hannover lagen die Ergebnisse. Nicht sehr elegant. Und es sieht so einfach aus. – Unsere Murano-Sammlung, in die Ostvitrine gestellt, wegen der Morgensonne.
     
    Jetzt wollen sie die Mark abschaffen. Völlig verrückt geworden. Da könne man ohne zu wechseln durch ganz Europa fahren: Mit so was machen sie uns das schmackhaft. Erst mal: Wer tut oder will das schon, durch ganz Europa fahren, und zweitens, das Geldwechseln ist heutzutage doch ganz einfach? Und was sagen die Numismatiker dazu?
    Das Abbrechen historischen Gemäuers. Die Zerstörung der Sprache («Auszubildender»).
     
    2007: Inzwischen gibt es ein Zweieurostück mit dem Schweriner Schloß hinten drauf.
     
    Blöde Frage:«Schreiben Sie mal wieder ein Buch?»- Es drängt mich alles zu den«Trompeten», aber ich muß erst das«Echolot»fertigstellen, sonst werden wir nicht fertig. 5. Februar ist erledigt, der 6. Februar schon vorbereitet. 1943, was für ein Jahr!
    Wie es mit grauen Schleiern behängt aus der Vergangenheit aufsteigt. Wetterleuchten.
     
    Bin sehr herabgestimmt und kann die Ursache nicht ermitteln. Ausgelöst sicher durch den Besuch der australischen Nichte. Das Telefon läutete, ohne daß jemand ranging. Da bricht denn das«alles umsonst»wieder auf. Daß ich mich beleidigt fühle durch die Verschleppungstaktik des Landesarchivs: Zehn Jahre haben sie gebraucht – und noch immer kein Ergebnis. Heute zwei Seiten Interview Raddatz mit Stefan Heym in der ZEIT, ausgerechnet! – Und daß mir aus Rostock der Wind entgegenschlägt. Auch: ausgerechnet. Damit hatte ich am allerwenigsten gerechnet. Ich dachte, sie würden die Arme ausbreiten.
     
    NDR will das Beethoven-Hörspiel wiederholen. Diese ernst gemeinte Sache wird zum Sylvesterscherz verwurstet.
     
    Simone hat tatsächlich die beiden verloren geglaubten Monate des«Hamburger Fremdenblattes»aufgespürt: in Hamburg bei Springer. Sie hat für«Echolot»den Veranstaltungskalender abgeschrieben. Sie staunt über die Reichhaltigkeit des kulturellen Angebots zu dieser Zeit! Kinos! Theater! Konzerte! Alles lief weiter, als wenn nichts wäre.
    Es fehlen Vorlesungsverzeichnisse der Universitäten und Volkshochschulen.
    Wiedervereinigungsstatement einer Journalistin:
    Nein, ich bin nicht nach Berlin gefahren, ich hab’s mir im Fernsehen angeguckt, ich hab’ zum Teil mitgeheult. Emotionen waren das, die ich nicht unter Kontrolle halten konnte. Vor vier Wochen bin ich zum ersten Mal drüben gewesen, habe eine Stadtrundfahrt durch Berlin gemacht, mit meiner Tochter (19 Jahre). Erst im Westen, die Mauer ist weg, es wird trüber und grauer. Läden, in denen plötzlich was reingesteckt worden ist. – Die Leute sind nicht an die Hand genommen worden, und man hat ihnen nicht gesagt, was passiert. Irgendwie hab ich ein Stück Trostlosigkeit gespürt. Ich neige dazu, den Leuten in die Augen zu gucken, aber die haben alle weggeguckt, in der U-Bahn. Die guckten alle weg – das war Mißtrauen.

Nartum Mo 9. Dezember 1991
     
    Eine DDR-Künstlerin hat festgestellt, daß«die Onkel- und Tantenpakete, die glitzernden», die jahrelang über die Grenze gingen, gar nicht so viel wert gewesen seien, wie sie immer angenommen. Nun, ich kenne Leute, denen das Paketeschicken über die Jahre ziemlich sauer geworden ist, und daß drüben jemand die Liebesgaben zurückgeschickt hätte, davon hab’ ich noch nichts gehört.
     
    9 Uhr
    Beim Zahnarzt im Wartezimmer ein sogenanntes«Adventsgesteck»mit weißer Kerze und lila Schleife.
    Um 5 Uhr wachte ich auf, las ein Stündchen und schlief wieder ein und träumte von Pastor Mund, daß der uns besucht und uns wunderbar in unserem neuen Auto fährt.«Mit Mund fährst du gut», sollte das bedeuten, und es bezog sich auf den Termin beim Zahnarzt heute.
     
    Dieses unheimliche Schweigen um mich herum. Kaum beweisbar oder benennbar werde ich geschnitten. Das sind Erfahrungen, die ich gottlob mit Hildegard austauschen kann, sonst würde man sie mir nicht glauben. Ins Zuchthaus kam ich, weil ich das da drüben nicht mitmachen wollte, in der BRD wurde ich nicht anerkannt, weil ich nicht mitgemacht hatte, als Hanser-Autor rutschte ich eine kurze Zeit so mit durch, und dann kam man drauf, daß ich ja wieder nicht mitmachte. Jetzt werde ich geschnitten, weil ich damals nicht mitgemacht habe. Ich bin ein Nicht-Mitmacher, und das kann nicht geduldet werden in unserer Gesellschaft.«Ohne-Michel»wurde man zeitweilig genannt.
     
    In der Nacht ein großartiger
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