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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
Autoren: Walter Kempowski
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das Parlament... Eine typische CDU-Sache. Wir haben das Gefühl, schlecht regiert zu werden. Das gilt auch für die Asylsache und für die Ecu-Angelegenheit. Überhaupt, Europa.
     
    Gestern Nudelauflauf. Ich nehme auf Anraten des Arztes kein Nutrizym mehr – keine Reaktion.

Nartum Do 12. Dezember 1991, schön
     
    Gestern nacht 9° Kälte.
    Schomerus hatte mir zwar gesagt, Magenspiegelungen heute seien mit damals (1972!) nicht zu vergleichen – ich muß leider sagen, es war im Prinzip genauso: Der Schlauch hatte den gleichen Durchmesser, und die Hilfsmaßnahmen waren ähnlich, Spritze, Betäubungspusterei in den Hals. Damals hielt mir der türkische Assistenzarzt den Kopf liebevoll, diesmal war ein junges Mädchen angestellt, mir die Hand zu drücken. Kaum war die Prozedur erledigt (kürzer als damals), machte sie sich davon. Sie hat es wohl schon zu oft erlebt, daß Männer das mißverstehen, dieses Händehalten. Wohltuend war es, genauso wie beim Zahnarzt, die Berührung des Schenkels der assistierenden jungen Frau. Während der da rumwerkelt, immer den Schenkel zur Linken – das ist schon was. Und dann liegt man da so schön gemütlich. – Davon konnte heute früh keine Rede sein, das war ein Gewürge! Ich hatte eine Sabbertüte vor der Brust, in die ging reichlich Spuckerei hinein.«So», sagt er,«nun haben wir es gleich …», und dann zog er das Dings raus, wohlig erleichtert war ich.
     
    2007: Letzte Magenspiegelung: gar nicht zu merken. Routine.
     
    Als Privatpatient an den Wartenden vorübergeführt zu werden, das ist auch so eine Sache, etwas unangenehm, aber doch erfreuend. Ich dachte: Wahrscheinlich sind das stationäre Patienten, die sowieso nichts anderes zu tun haben. Sonographie – dies Glubberzeugs auf dem Bauch, und dann sah ich auf dem Fernsehschirm meine elegante Gallenblase, niedlich, den großen Leberlappen, die Milz – aber die Galle war eine richtige Collasius-Galle. Merkwürdig unpopulär die Milz. Auf die gibt’s kein Gedicht.
    Hildegard brachte mich hin, was mir wohltat. Auf der Fahrt öffnete sie ein Eilpäckchen, darin M/B-Sonderausgabe. Sie las ein Stück daraus, und ich entdeckte sofort Nicht-Stimmiges. Zu spät.
     
    «Sie wollen als Mensch behandelt werden und zahlen die Miete nicht!?»hat irgend jemand zu irgend jemand gesagt, das erzählte Hildegard.
    Bloß nie Hausbesitzer mit Mietern werden!
     
    Im Radio: Honecker muß morgen Rußland verlassen. Ihm wird immer noch das Zuchthaus Brandenburg zugute gehalten. Ich meine, wenn er bewußt gegen die Nazis agiert hat, dann müßte er durch deren Unmenschlichkeiten doch zur Güte und Weisheit bekehrt worden sein? In ihm sind die leidvollen Erfahrungen nicht fruchtbar geworden, und deshalb taugen sie auch nicht als Milderungsgrund. Sie verstärken eher das Kopfschütteln: Obwohl es die Nazis waren, bei denen er gesessen hat. Das bloße Sitzen macht einen ja noch nicht zum Helden.
    Es heißt, im Zuchthaus Brandenburg hätten sich die Kommunisten gegenseitig geholfen. Ähnliches hört man auch von Frau Buber-Neumann aus Ravensbrück.
     
    In den USA ist der widerliche Prozeß gegen den Kennedy-Neffen zu Ende gegangen. Nicht schuldig. Die Staatsanwältin habe sich ein halbes Jahr nur mit diesem Fall beschäftigt, wurde gesagt. Er soll die Frau angeblich unter dem offenen Fenster irgendwelcher Angehörigen mißbraucht haben, sie habe geschrien und sich gewehrt. Na, also... Wenn einer draußen schreit, dann gucke ich doch, was da los ist?
     
    Ich bekam heute aus Rostock von dem Mädchen Wagner zwei Orgelpfeifen der Rostocker Marienkirche, offenbar ausrangiert, zum Dank für das Seminar hier.
    Reliquien. Aber wenn man reinbläst, kriegt man Lippenkrebs.
     
    «Das Land der unendlichen Merkwürdigkeiten»nennt Eser die SU.
    Das Hauptwerk seines Lebens sei vollbracht (Gorbatschow).
    Die Epoche Gorbatschow sei zu Ende, ein SU-Parlamentarier.
    22 Flughäfen sind dort wegen Benzinmangel gesperrt, das sei nichts Besonderes.
    «Das Imperium löst sich auf.»
    So, wie sie den Status quo jahrelang hingenommen haben, trotz aller Ungeheuerlichkeiten, so sind sie nun gleichmütig, angesichts der knarrenden Veränderungen, der größten Sensation.
    Das kommentieren sie ungerührt.
    Gelassenheit ist Trumpf. Und der Linken steht das Maul offen. Honecker ist jetzt bei den Chilenen. Hat er ein Vogelfederchen am Hut?
    Die Bresser-Runde, mit Siegloch.
    Lockerer Staatenbund (Leonhard).
    Scholl-Latour: Totengräber des Imperiums sei Gorbatschow, drei
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