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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
Autoren: Walter Kempowski
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mir so rausgerutscht», sagte sie. So was kann in anderen Fällen viel schlimmere Folgen haben. Danach dann gleich mein erster Besuch in Rostock mit Robert und Lesung in der dortigen Kunsthalle. Die gehässige Gastgeberin sei nicht vergessen.
    Dann hatte ich die Koliken, die zu einem Umbau meines oberen Zimmers führten, und nun geht es mir besser. Die giftverseuchten Wandplatten wurden rausgeschmissen. Das ganze Jahr’90 dann kaum noch Leibschneiden.
    Dann wurde mit Duyns der Bautzen-Film gedreht und von den Kölner Damen der Film über Rostock.
    Sommertage in Graal. Menschenleerer Strand, kleine schwappende Wellen. Erinnerungen an den Sommer 1937, als ich dort mit meiner Mutter allein drei Wochen verbrachte. (Robert:«Das muß für dich sehr schön gewesen sein.») Sie sollte sich von einer Operation erholen. Erinnerungen an ein«kleines Helles», das sie sich bestellte. Und einem Herrn am Nachbartisch küßte ich im verwirrten Zustand seine Glatze. Daß er kinderlos war, konnte ich nicht ahnen.
    Weimar zweimal, Greiz und Vortragstour im Allgäu mit Denk.«Sirius»und das beschissene Rostock-Buch zur TV-Sendung.
    Nochmals Rostock (Universität, Doberan-Lesung im Haus von dem Kollegen Ehm Welk). Ich saß an seinem Schreibtisch. In seinen Schränken viel Unveröffentlichtes. Nach der Lesung wurde ich von zwei ehemaligen Internierten angesprochen, die meinten, weil ich in Bautzen gesessen habe, sei ich einer der Ihren. Ehm Welk jedenfalls war Mitglied der KPD. Der hatte sich, weil er dachte, daß er schlau sei, vor dem Krieg ein Stück Land in der Uckermark gekauft. Hat ihm nichts genützt! Er wurde ratzeputz enteignet. Aber sein schönes Haus jetzt? Wenn auch die Kleinbahn alle Viertelstunde vorbeirasselt. Eine ganz hübsche Existenz.
    Aufträge für«Hörzu»und Hagen. Gegenströmungen ausgehalten. Viel Widerwärtiges in diesem Zusammenhang. Neuordnung der Archive, Scheidung in Grün und Blau und Gelb.
     
    2007: Hat sich als sehr praktisch erwiesen. Gelb = Fotoarchiv, Grün = meine Manuskripte und Blau = die Einsendungen, das«Fremdarchiv». Ohne diese Einteilung hätte ich schon sehr bald die Übersicht verloren. Sie wurde auch vom Archiv der Akademie in Berlin übernommen.
     
    Feste Anstellung von Simone.
    Beginn mit«Alkor»und Vorantreiben des«Echolot».
    Finanzielle Befreiung durch Verlag.
    Antrag auf Pensionierung (um ein Haar vergessen!).
    Seminarbetrieb wurde reduziert. Die Grenze des Lächerlichen war überschritten. Aber schöne Erinnerungen in meinem Herzen. Und den Haß meiner Kollegen auf mich geladen. Sie fahren jedes Jahr zweimal nach Italien, und ich wohne in einem 15-Zimmer-Haus. Das macht sie rasend. Sie hätten gern beides. Raddatz:«Kempowski hat ja’ne Villa!»
     
    TV: Ein stürzender Skispringer, er habe eine schwere Gehirnerschütterung«davongetragen», sagte der Sprecher, und einen Unterarmbruch. Es müßte Verletzungsweltrekorde geben. Es gibt ja Leute, die wie nach einer Räderfolterung ins Krankenhaus eingeliefert werden. Diese Skiabfilmerei dauert jedes Jahr Monate. Tag für Tag Abfahrtsläufe. Daß sich das Leute überhaupt angucken? Berge um die Wette raufkraxeln, das gehört nicht zu den Winterdisziplinen, aber es müßte doch dazugehören? Fußball besteht doch auch nicht nur aus Elfmeterschießen. Wer am schnellsten oben ist, und dann meinetwegen runterrasen. Wie das so ist, hochkraxeln und runterrasen. Das Stürzen ist die einzige Abwechslung für die Zuschauer. Merkwürdig, daß es keinen Schanzensprung für Frauen gibt, sonst drängen sie sich doch überall rein. Boxen tun sie doch schon? Skisprung führt wohl zu Unterleibsverletzungen, da senkt sich die Gebärmutter irgendwie. Bei der Schießerei machen sie schon mit, ohne daß feministische Friedensvereine bisher Einspruch erhoben haben.«Biathlon»heißt das. – Wenn sie gewonnen haben, waschen sie den Trainer mit Schnee ab. Die Gewehre sind Spezialinstrumente, mit denen kann man gar nicht vorbeischießen. Anti-Kriegsplakate im Zuschauerhaufen wurden nicht gesehen.

Nartum Mi 2. Januar 1991, Vollmond hinter nachtdunkler Wolkenwand
     
    Nun ist der Winter gar so hart,
bringt mir groß Leid und Kummer.
Gar sehnlich ich schon lang erwart
den schön und edlen Summer …
(Jobst von Brant, 1606)
    Heute beginnt das 34. Seminar. Diesmal in kleiner Besetzung. Guntram Vesper, Paul Kersten und Gabriel Laub. Die Rostocker Schüler, die ich eingeladen habe, sind bereits eingetroffen und gucken sich alles an.
     
    Ulla Hahn las
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