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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
Autoren: Walter Kempowski
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Sternenhimmel. Genau über dem Klofenster der Große und der Kleine Bär. Allerhand größere Sterne, von denen ich gern gewußt hätte, wie sie heißen. Was man benennt, hat man.
     
    Am Vormittag war ich beim Zahnarzt. In einer«dramatischen Aktion»wurde der Backenpfeiler meiner rechten oberen Brücke gerettet.
    Linde:«Ein anderer Arzt hätte gleich gerupft!»- Wollen hoffen, daß ich in der Nacht keine Schmerzen kriege. Er hat den Zahn nach Art einer Schichttorte gefüllt,«wie ihn die Mutter immer gebacken hat, ganzen Tag in der Küche gestanden, und wir haben kaum hingeguckt».
     
    Am Nachmittag habe ich dann in Rotenburg dem Herrn Professor Schomerus meine Magenschwierigkeiten erklärt. Nächste Woche wollen wir den Magen spiegeln.
    Er sei auch Psychologe, hat er gesagt, und er hat mich gefragt, ob ich seelische Schwierigkeiten habe.
     
    Im TV die Gründung einer slawischen Union, Gorbatschow kann sich pensionieren lassen. Man sollte ihm einen Ehrensold aussetzen. Puppenhafte Sowjetoffiziere waren zu sehen, mit den großen Mützen, die etwas ratlos in die Gegend gucken. Allgemeines Rätselraten, was mit den Atomwaffen wird.
    Klavier gespielt:«Vom Himmel hoch...»Meine Chorfassung rekonstruiert. Bautzen.

Nartum Di 10. Dezember 1991
     
    I973: Die SED verleiht den Thälmann-Pionieren
das Recht, rote Halstücher zu tragen
Jahrestag der Pionierorganisation der Volksrepublik
Polen
    Die trüben Gedanken sind weggeblasen, nun habe ich eher Angst vor den Ärzten, die noch in dieser Woche Hand an mich legen werden.
     
    Den ganzen Tag saß ich am«Echolot», legte Texte zurecht, die bisher übersehen worden sind. Sie werden morgen eingegeben.
     
    Spät am Nachmittag Spaziergang in Orange, die bethlehemitische Mondsichel am Himmel.
    Die mediale Ausländerfeindlichkeitsblase in den Zeitungen ist jetzt auf dem Höhepunkt, sie zerplatzt demnächst. Es nähert sich die Ecu-Blase. Das ist wie in der«Schiffergesellschaft»zu Lübeck, da fahren Lichtschiffe an den Wänden, immer rundherum.
     
    Im Radio heute nacht Beethovens IV. und Robert Schumann, Quartett Nr. 3. Vorher irgendeine Glinka-Scheiße. – Schumann: klare Sache, wie Schlager. Aber im Beethoven konnte ich meine Angelhaken nirgends einschlagen. Sie rühmen die Symphonie. Was hilft’s?
     
    TV: Das abstoßende Theater mit dem Kennedy-Enkel oder -Neffen. Die angebliche Vergewaltigungssache wird abgehandelt wie eine Staatsaffäre.
    Ach ja, die Sex-am-Arbeitsplatz-Blase habe ich noch vergessen. Sexuelle Belästigung heißt das.
     
    FAZ-Schlagzeile:«Die Sowjetunion ist begraben.»

Nartum Mi 11. Dezember 1991, schön
     
    Tag des Gesundheitswesens
    In der Nacht 8° Kälte. Herrlich geschlafen. Angst vor morgen.
     
    FAZ: Weil Gorbatschow nichts mehr zu sagen hat, redet er, was ihm gerade einfällt.
    Kunert: Das Gerede von DDR-Identität, das vor dem Fall der Mauer drüben sofort abgelehnt wurde, weil als Sprache der herrschenden Funktionäre erkennbar.
    Diese«Identität»ist nicht echt; sie ist nur der Ausdruck einer Befindlichkeit, eines Mißbehagens, das seine Ursachen verdrängt hat.
    Sehr richtig! Sie sei das plötzlich ins Positive umgekippte Relikt eines einst negativen Kollektivbewußtseins, das sich selbst als letzter Dreck der zivilisierten Welt verstand.
    Der Platz im Schmollwinkel ist kein erstrebenswerter Aufenthaltsort und auf Dauer ohnehin eine Einsiedelei. Es ist aber nicht die Zeit für Einsiedler, die ihre«Identität»hegen, während draußen vor ihrer Höhle der Rest des Planeten zugrunde zu gehen droht.
    Ja, es fehlt die Verachtung, sie verflüchtigt sich jedenfalls, wenn sie je vorhanden war, vor dem synthetischen DDR-Selbstbewußtsein.
     
    «Mark und Bein»und«Trompeten»können als die zwei Flügel eines Triptychons verstanden werden, in deren Mitte etwa der«Restaurator»oder«Margot»steht.
    «Echolot»: Den 7. Februar fertiggestellt. Simones Hamburger Notizen vom«Fremdenblatt»: zu dieser Zeit noch ein unglaubliches Kulturangebot in Hamburg. 40 Kinos, jede Menge Theater. Es fehlen leider Volkshochschulvorträge und die Sportveranstaltungen (Universität! nachfragen). Für Zwischentexte geeignet.
     
    Hüls von der«Hörzu»pflaumenweich, ja, er will zahlen, aber Vertrag wird nicht verlängert, weil absolut keine Reaktion vom Publikum. – Nun, wenn er die Rubrik auch nur dreimal erscheinen läßt? Es ist alles so rätselhaft.
    Kämpfende Neger bei Nacht.
     
    Fauler Kompromiß in der Hauptstadtfrage. 10:8 Ministerien. Obwohl
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