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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
Autoren: Walter Kempowski
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grüßen müssen.
    Bauleute hätten auf den Weg eine Fuhre Sand gekippt, so daß Nachbarin nicht vor ihr Haus …«Aber ich habe doch Fisch gekauft und möchte meinen Wagen auslüften lassen.»
    Dörfler interessiert sich fast ausschließlich für Fachwerkkonstruktionen. Baut Häuser ab und wieder auf. Wie man die Balken im 18. Jahrhundert miteinander verbunden hat, das zu wissen ist seine große Leidenschaft. Das Wort«kragen»kommt öfter vor, die«Balken kragen vor»oder so.
    Nartum: Wie sie das letzte große Bauernhaus abrissen, da hat meine Stimme nichts gezählt. Der Mittelpunkt des Dorfes. Und dann das Nachbarhaus neben der Schule, auch weg, die 200jährige Buche mit einem Trecker umgeschoben, nicht einmal anständig gefällt. Und das Bauernhaus – weg damit. Eine neue Sparkasse sollte da gebaut werden! Und da kam dann irgendwas dazwischen. Nun steht da gar nichts mehr. Ich habe nichts dazu gesagt.
     
    Der fabelhafte Gerd Ruge in Moskau. In unserer Hightechzeit passiert es, daß telefonische Verbindungen nicht zustande kommen. Ruge und Scholl-Latour, das sind die einzigen, die gut Bescheid wissen. Die lachen immer so verschmitzt, weil sie die Dummheit der Buchgelehrten, mit denen sie talken müssen, sofort mitkriegen.
     
    Mittags sangen in sich selbst verliebte Kitschtantenkoloraturen Weihnachtslieder und drehten und wendeten sich dabei.

Nartum Mo 16. Dezember 1991, trüb
     
    Hildegard hat sich ein Kopftuch umgebunden und rast mit dem Staubsauger, Frau Meyer hat nämlich entbunden, und neue Hilfe ist nicht in Sicht. Dazu Simone, Melanie und die fotokopierende Frau Lee (Hagen), Telefon – und Lieschen immer noch läufig. Also, da sage einer, hier sei nichts los.
    Gestern hatte sich Schmilgun angesagt, wir baten Kleßmann dazu, der seine neue Freundin mitbrachte. Es war ein interessanter Abend, wenn auch etwas laut. Ich baute am Schluß ziemlich ab. Schmilgun hatte CDs mitgebracht, die ich heute nachmittag hören werde, und einen Film von 1971 (?), wie mich Uwe Johnson über den«Bürgerlichen Roman»verhört. Schrecklich! Ich gab einen rechten Naivling ab. War ich ja auch. Besser naiv als Kommunist.

Nartum Di 17. Dezember 1991
     
    Kleßmann stimmte eine starke Rede zugunsten Telemanns an, er schimpfte auf die Bachanten, die seinen Favoriten geringachten.
    Er ist in der T.-Gesellschaft, die früher Konzerte in Hamburg veranstaltet habe, die ausverkauft gewesen seien, das hätten sie nun eingestellt, weil beim letzten Konzert gerade 38 Personen gekommen seien. So ähnlich sei das mit Brahms. Schmilgun stimmte ihm zu. Ob das ein hamburgisches Problem sei, kriegte ich nicht heraus. Fühlte mich irgendwie schuldig, als ob ich dafür verantwortlich bin!
    Telemann hat ja verdammt viel geschrieben. Unter anderem ein Musikwerk«Sturm und Flut bei Hamburg»oder so ähnlich. Da zittern die Cembalos ganz schön!
     
    Ihm ist es in seiner Heimatstadt Lemgo schlecht ergangen, Kleßmann nämlich, so ähnlich wie mir in Zeven. An seinem Gymnasium sei er unbekannt, alle möglichen Professoren würden dort geehrt, in der Festschrift zum x. Gründungstag sei er nicht einmal erwähnt, ja, man habe ein Foto aus seinem Prinz-Louis-Ferdinand-Buch abgekupfert und – ohne auf sein Buch hinzuweisen – abgedruckt.
    So eine Ungerechtigkeit ist in der Tat unverständlich, und ich fürchte sehr, daß es mir mit Rostock ähnlich ergehen wird, wenn ich nicht aufpasse.
    Identifiziert Kleßmann sich mit Telemann?
    Telemann wird selten gespielt. Vielleicht hängt das zusammen mit der Unzahl seiner Kompositionen? Ob sich die Veranstalter vielleicht nicht entscheiden können und über dem Studium des Werkverzeichnisses einschlafen? Es heißt, Telemann habe mehr geschrieben als Bach und Händel zusammen. 45 Opern! 23 Kantaten-Jahrgänge! 15 Messen, 46 Passionen, 1000 (eintausend!) Orchestersuiten, 12 Kantaten und unendlich viel Kammermusik.«Die Masse könnt ihr nur durch Masse zwingen», dieses Goethe-Wort trifft auf T. nicht zu, er hat seine Zuhörer oder Interessenten regelrecht eingedeckt mit seiner Musik. Wenn ich mich jetzt für ihn interessierte – wo soll ich bloß anfangen?
    Von Rühmkorf hat Kleßmann noch erzählt, daß der in den 60ern/70ern irgendwann von bewaffnetem Aufstand gesprochen habe, die Meinhof sei dagegen gewesen.
     
    Heute kam allerhand Weihnachtspost. Ein Herr Andersen aus Ingolstadt schickte mir drei Kassetten«Sirius». Er ist Schauspieler oder Sprecher und hat für ein Blindeninstitut den
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