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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
Autoren: Walter Kempowski
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langem Bart des Wegs, der unsere Einladung, sich zu uns zu setzen, zurückwies und alles als kalten Kaffee bezeichnete.
    Heute bei der Massage höre ich von nebenan:«Das juckt hier unten immer so.»
    Gymnastik gibt es leider nur in Gruppen. Der Masseur fragte die G.-Mädels, ob sie auch einzeln …
    «Für Kempowski …»
    «Kempowski?»
    «Weißt doch, Walter Kempowski...»
    «?»
    «Na, der von Tadellöser und Söhne...»
    Gott sei Dank war nichts zu machen. Ich wäre ja doch nur einmal hingegangen und hätte Ball gespielt mit dem Mädchen. – Ich habe in meinem ganzen Leben nie Sport getrieben. Heute beim Nachmittagskaffee, neues Deckchen auf dem Tisch. Das sind die Freuden des Ehelebens.
     
    23.30 Uhr
    TV: Bei Zilligen war Thomas Mann zu sehen, wie er seinem Sohn Klaus auf die Schulter schlägt. Bei der Besichtigung des Buddenbrook-Hauses in Lübeck sehen sich das nur wenige Passanten an. Je mehr ich über ihn höre, desto ferner rückt er mir.
     
    Aus Rußland Bilder wie zu Kriegszeiten. Verhärmte zahnlose Menschen. Ein zum Leiden erschaffenes Volk. Sie können eine Menge ab.
    Und in Potsdam wurden emigrierte Autoren hämisch behandelt. Der Fluch, der ihnen nachgesandt wurde, ist noch wirksam. Z. T. ist mir die Sprache dieser Leute unheimlich, Schacht z. B., wie der auf die Ostdeutschen schimpft, und Biermann. Aber dann wieder der windige Herr Fink. Ich fürchte: Wer sich darauf einläßt, sinkt in den Morast. Ich hoffe nur, daß man mich in Rostock gnädig annimmt mit meinen gesammelten Siebensachen. Sonst bin ich mausetot. Hab’ mich noch nie so heimatlos gefühlt, vielleicht ist der Grad meiner gesteigerten Sehnsucht ein Maßstab dafür.
    Weihnachtsbäume wurden in unserem Wäldchen geschlagen.
    Wir haben die Bäume, die wir pflanzten, verraten. 10 Jahre sind sie alt. Ein kurzes Leben.
    Was ist der Unterschied zu dem Nachbarn, der seine Enten schlachtet, und unserem Baum-Massaker? – Obwohl wir die Bäume gekennzeichnet hatten, schlug sich ein Bauer seinen Baum einfach aus der Mitte heraus.
     
    Totenmesse für W. A. Mozart zum 200.
    Hildegard:«Erst jetzt? Wo der schon 200 Jahre tot ist?»Sie wunderte sich, daß ich Solti sofort erkannte, der riß den Mund auf, um den Sängermassen zu zeigen, daß sie dem Ton freien Lauf … Sein Spitzname:«Der schreiende Kopf». Wenn man ihn so agieren sieht, kann man dem zustimmen.
     
    «Echolot»: Heute abend den 3. Februar geordnet. Es geht mit Riesenschritten, wenn ich nicht gestört werde. Immer noch Stalingrad. Ein ganz seltenes Zeugnis darunter: das Notizbuch eines Gefreiten, eines Kartenzeichners, der gefangengenommen wird und Aufzeichnungen macht. Daß so etwas erhalten blieb!
     
    Streichquartett Nr. I von Schostakowitsch, werde ich mir nach und nach anhören.
     
    Messe war auf Lateinisch!
     
    2007: Der neue Papst will die lateinische Messe wieder zulassen, die Papst Paul VI. verboten hatte. Großer Schaden ist dadurch angerichtet worden. Verboten!

Nartum Fr 6. Dezember 1991
     
    T: New York. Mit KF klettere ich durch verlassene Häuser und ruinöse Fabriken, z. T. gefährlich. Eine der Fabriken wurde erst im vorigen Jahr fertiggestellt, und nun zerfällt sie bereits.
    An uns vorbei rasen Hunderte von mongolischen Ratten. Jede hat auf dem Rücken einen kleinen Getreidevorrat.«Siehst du», sagte ich,«das ist das Geheimnis der Staatsführung, jeder sorgt für sich selbst.»
    Parallel zum Rattenzug kommen Schäferhunde gestürmt, sie beachten uns nicht. Eine Katze wird attackiert. Ich sage:«Das ist doch unsere Muschi, wir müssen ihr doch helfen.»
    Inzwischen wartet der Zug, mit dem wir längst hätten abfahren sollen. Ein Mädchen guckt aus dem Fenster.
    «Und ihr sagt mir gar nicht Bescheid?»
    «Es wird doch höchste Zeit?»sage ich.
    Aber wir fahren doch lieber mit dem Auto, KF winkt uns zu, wir fahren in Kolonne.
    (Hildegard hatte gemeint, wir wollten unseren Besitz und Geld an die Kinder verteilen.)
     
    8 Uhr
    Frühnachrichten. SU hat irgendwie die Zahlungen eingestellt. Ein«Konsortium»peilt die Lage. Gorbatschow ist besorgt wegen der Ernährungslage. Den ganzen Sommer über haben sie gewußt, daß der Winter kommt.
    Ich denke an den russischen Kadetten, den ich 1945 mit Brötchen Fußball spielen sah.
     
    Ein Film, in dem gezeigt wird, wie Werftarbeiter die NVA-Schiffe verschrotten, die sie selbst gebaut haben.
    Ich kann verstehen, daß die Leute drüben ihren Zeiten nachtrauern. Mir geht es ja auch so, der in den Trümmern schwelende
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