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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
Autoren: Walter Kempowski
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ist nun auch schon wieder Vergangenheit. Nicht, daß ich dem nachtrauerte! Ich hatte immer schöne Musik an. Einmal ein langer Vortrag über Hofmannsthal, Briefe an seine Tochter. Es war gerade ein Stau. (Über 90 Jahre alt ist sie geworden und in New York gestorben.)
     
    Sehnsucht nach Rostock.
     
    Schickte heute die Fotos an Odette ab, ein verwickeltes Gefühl hielt mich davon ab, sie Hildegard zu zeigen. Eine solche Physiognomie muß ja den Seelenfrieden, so oder so, stören.
     
    Pleitgen in Perm, große Pelzmütze auf, modischer Mantel. Im Hintergrund Holzhaus, Schnee, Panjepferde. Auch das ist aufklärerische Gleichzeitigkeit, niemand lernt etwas daraus, keiner merkt was.
     
    Britten, Weihnachtsgesang der Hirten. Immer wieder, und immer wieder Tränen.
     
    Ein Freund: Ob ich keine Schwierigkeiten bekäme, wenn ich so was schriebe, im«Sirius», mit Hitler, den Traum, wo ich da neben dem Aufzug herlaufe …
    Seine Frau schenkte mir zwei Bildpostkarten.
     
    Der Lammbraten schmeckte sehr gut, aber er war gar nicht knusprig, obwohl das angekündigt war.
    «Kroß», das gibt es überhaupt nicht mehr.«Kroß»und«fett»sind gestrichen. Ah! Die Urmenschen, wie ihnen das Mammutfett aus den Mundwinkeln troff.
     
    In Oldenburg, das sogenannte Zusammensitzen mit Studenten. Nur wenige blieben übrig. Die Jugend werde ich doch etwas vermissen. Die Waggons mit Jugend wurden abgekoppelt, sie blieben auf der Strecke stehen.
    Hildegard staunt, was für Geld im Augenblick durch Lesungen hereinströmt. Sie will den Kindern was übertragen. Ich bin mehr für Hauskauf und Nutzung durch sie. KF wartet so lange, bis die Appartements unbezahlbar werden.
     
    Quartette sind wegen des vielzitierten«Gesprächscharakters»so interessant. In großen Orchestern werden die vielen Zuhörer ja nur angeschrien, da kommt kein Gespräch zustande. Quartette, das ist demokratische Musik. – Daß Orchester trotz der Einstimmung auf das Oboen-A Schwierigkeiten mit der Intonation haben, sogar große, gute Orchester, z. B. zwischen dem Blech und den Streichern. An so was denkt man gar nicht. – Der Dirigent fleht sie vorher an, nur ja achtzugeben auf die Intonation.
     
    Der Übernachbar hat Enten geschlachtet und den Blutabfall einfach auf’n Abfallhaufen geworfen. Lieschen tut sich daran gütlich.
     
    In 3Sat ein Cocktail aus verschiedenen Mozartfilmen. Schöne Idee. Aber die Luft, der Geruch.
    Das war es, wenn ich nach Rostock kam, es roch dort besonders.
    Jetzt zieht’s mich mächtig dahin, solange es noch so kümmerlich ist.
     
    Grass hat sich nun gegen den braven, klugen Gauck gestellt, er soll das Schnüffeln lassen. Irgend jemand hat die Gauck-Behörde gar verglichen mit der Gesinnungsschnüffelei der Nazi-Zeit! Und in ihren Stuben weinen die Opfer.
    Ich bin übrigens als Opfer nicht existent. Ach, damals – das war doch mit den Russen. Die denken, ich hätte wegen der Nazi-Zeit gesessen, irgendwie mit dem Krieg hatte das doch zu tun? Loest ist der große Mann. Das Gedächtnis der Leute reicht nicht bis in die 40er Jahre. Auch das gehört zu meiner Buße.
     
    2007: Das Gauck-Archiv ist die größte literarische Leistung der Weltgeschichte. Wie aus den Hexenprozeß-Akten wird man später daraus Informationen ziehen, die sonst nirgends zu kriegen sind.
     
    Der korpulente Kanzler über die Vereinigung Europas. Er wirkt ziemlich kompetent. Larifari-Lafontaine fällt dagegen sehr ab. Und der Pfeifenlutscher?
     
    Beim Dorfarzt heute die Mädchen im Vorzimmer zu mir:«Wie ist Ihr Name?»Seit 30 Jahren bin ich dort Patient.
     
    Die Krähen sind wieder da. 500 Stück.
    Heute lag die Katze den ganzen Tag bei mir im Zimmer. Ich empfand das als Liebesbeweis.
    Innerlich und äußerlich groß sei Mozarts Es-Dur-Quintett, sagt der Ansager. Nun Glasharfe. – Ich spielte heute die F-Dur-Sonate zu Mozarts Gedächtnis.
    Nächstes Jahr fange ich eine andere an. Mit einer Sonate kann man sich monatelang beschäftigen. Was für kostbare Gebilde. Wie Romane. Das Erzählende dieser Musik.

Nartum Do 5. Dezember 1991
     
    T: Langer T., ich habe ein Seil durch eine Kirche gespannt, um zu zeigen, daß diesseits und jenseits sich einander ergänzende Geschehnisse abspielen, auch in der Wohnung. Karasek findet das sehr interessant, er will offenbar darüber schreiben. – Der Traum war sehr lang, immer wieder wurde es plausibel, wie sinnreich und nützlich es ist, die Dinge ständig von zwei Seiten zu sehen. Ganz zum Schluß kam ein kleiner Mann mit
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