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Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)

Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)

Titel: Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
Autoren: Keith Donohue
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den Kanarienvogel verschluckt zu haben.
    Sein Gesicht war wie eines von denen, die ich in meinem alltäglichen Erinnerungsspeicher bewahrte, eine jüngere Version von ihm hatte ich viele Jahre lang gekannt. Ich war mir seiner Identität absolut nicht sicher, und falls er der war, der ich dachte, warfen seine physische Präsenz und Existenz alle rationalen Gedanken über den Haufen. Dass mich seine Anwesenheit nicht überraschte, kann den anderen verwunderlichen Ereignissen dieses Tages zugerechnet werden – oder vielleicht war er auch gar nicht da, sondern eher eine durch die eben erlittene Erschütterung ausgelöste Halluzination. Wegen des Nebels in meinem Kopf formulierte ich es als Frage an die Gestalt, die da auf dem Badewannenrand hockte.
    »Vater?«
    Wieder ereilte ihn ein Hustenkrampf, dieses trockene Gebell, das aus seinem Inneren emporrasselte, und er legte die Hand vor den Mund. Winzige gelbe Federn stoben aus seinen Ohren. »Entschuldige, Kleiner, aber ich habe mächtigen Durst.«
    Im Wissen um die schädliche Wirkung von zu raschen Bewegungen stand ich vorsichtig auf und hielt mich des Gleichgewichts wegen am Waschbecken fest. Ich nahm meine Zahnbürste aus dem Becher und drehte den Hahn auf, damit das Wasser kühl werde, bevor ich das Glas füllte. Das Oberlicht tanzte auf der flüssigen Oberfläche, und ein milchiges Sediment kreiselte herum und setzte sich auf dem Boden des durchsichtigen Bechers ab, eine weitere Erinnerung daran, dass eine Grundreinigung des Bads dringend nötig war. Ich drehte mich um und reichte das Glas dem alten Mann, der sich während des ganzen Vorgangs nicht gerührt hatte. Nachdem er den Inhalt einen Augenblick betrachtete hatte, gab er mir das Wasser mit verächtlichem Blick zurück.
    »Ich trinke nie etwas aus dem Badezimmer.« Er ging hinüber zur Toilette und verwies mit stummer Geste auf eine symbiotische Verbindung über die Rohrleitungen. »Hast du etwas anderes als diese Plörre aus dem Waschbecken?« Seine Stimme hatte etwas ungebührlich Klagendes. Aus früheren Begebenheiten schloss ich auf die Vorliebe für etwas Alkoholisches, und auf meine Frage nickte er kräftig, wobei ein zartes Lächeln um seine rissigen Lippen spielte.
    »Vielleicht habe ich ein Bier im Kühlschrank. Oder irgendwo eine Flasche Whiskey.«
    Bei Letzterem hob er seine buschigen Augenbrauen. »Umwerfend. Auf deinem Rückweg könntest du dir etwas überziehen.«
    Der Schock, meinen angeblich verstorbenen Vater wiederzusehen, selbst in einer entkräfteten Version des Mannes, den ich in Erinnerung habe, hatte mich für einen Augenblick vergessen lassen, dass ich mit Ausnahme einer Armbanduhr nichts anhatte. An dem in die Tür geschraubten Haken hing ein weißer Bademantel, an dessen Kragen und einer Schulter feine rote Pünktchen zu sehen waren. Ich zog ihn an und schaute reflexartig auf die Uhr. Es war 4.52 morgens, als ich in den Flur, hinaus aus dem Licht und dem Brummen des Badezimmers, hinein in die Dunkelheit, trat, was auf der Stelle die visuellen Stimuli komprimierte, die die feuernden Synapsen in Gang gesetzt hatten. Mein Kopf wurde klarer. Da nichts zu sehen und nur weniges zu bedenken war, vergaß ich fast meine Absicht.
    »Ich nehme den Whiskey pur«, brüllte der alte Mann hinter mir her.
    Ich band den Bademantelgürtel zu und ging durch ein Haus, das so still war wie ein Grab. Oben an der Treppe blieb ich stehen und lauschte. Von ferne kam ein Seufzer eines Schlafenden, so leise, dass es vielleicht gar kein Geräusch war, sondern nur der Gedanke oder die Erinnerung an ein Gesäusel zu einem anderen Zeitpunkt und an einem Ort jenseits der Wände und vielleicht in den Wänden selbst. Da ich nicht sagen konnte, woher es kam, verschob ich meinen Gang die Treppe hinunter und suchte nach seinem Ursprung. Drei Räume grenzten an den Balkon, zwei Schlafzimmer und ein winziges Arbeitszimmer, wo das Reißbrett und die Zeichnungen ihren Platz hatten. Der Seufzer könnte ein Ächzen des Computers gewesen sein, der sich von selbst in den Schlafzustand versetzte, doch als ich die Tür zum Arbeitszimmer öffnete, war der Raum genau wie immer in wilder Unordnung, Papierstapel, Rollen mit Grundstücksplänen und Zeichnungen. Auf meinem lieben Computer, blank und still, ruhte ein dunkler Apfel wie ein geschlossenes Auge. Als ich mit der Hand über die Tischkante strich, sammelte sich Staub an meinen Fingerspitzen. Wieder kroch ein schabendes Geräusch durch die Wände, und ich flitzte hinüber zum
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