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Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)

Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)

Titel: Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
Autoren: Keith Donohue
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Dollys Gesicht in dem vergeblichen Versuch, ihre vorteilhaften Züge mit denen abzugleichen, die auf der Festplatte in meinem Kopf gespeichert waren. Und obwohl die Suche null Treffer ergab, schien sie mir eine alte Bekannte aus Urzeiten zu sein, die nur zufällig aus den Daten gelöscht war. Ihre schwarzen Augen gaben nichts anderes preis als mein eigenes Spiegelbild, und ihre Lippen waren zu einem harten, geraden Strich zusammengepresst. Auf meine äffischen Versuche, ihr irgendeine Reaktion zu entlocken, irgendein Zeichen, ob wir einst ein Liebespaar oder Freunde waren, zeigte sie kein Lächeln und kein Stirnrunzeln. Von seinem Platz sagte der alte Mann: »Darf ich fragen, welchem Umstand wir das Vergnügen deiner reizenden Gesellschaft verdanken?«
    Mit ihrem nackten Arm wischte sie sich den Schweiß von der Stirn, und mit dieser Geste wurden der Duft von Regen, Zedern und getrocknetem Fisch und ein Moschusparfüm frei, die meine olfaktorische Erinnerung an längst vergangene Zeiten öffnete. Der Alte neigte den Kopf, damit die Worte leichter in seine Ohrmuschel träfen. »Hast du eine Geschichte für uns? Dann erzähl’.«

Kapitel zwei
Die Frau, die einen Bären heiratete
    E he seine letzte Tochter geboren wurde, ein Kind, das er niemals sehen sollte, lebte Yeikoo.shk’ wie ein Fisch. In den letzten Schwangerschaftsmonaten seiner Frau hob tagelanger Dauerregen das Wasser über die Ufer der Bäche und Flüsse. Die Pfade waren hinauf bis zu den Häusern des Dorfes überflutet, und er lachte, wenn die Silberlachse in den lehmigen Pfützen an seiner Türschwelle mit dem Schwanz schlugen. An manchen Morgen, wenn seine Frau noch schlief, schlüpfte Yeikoo.shk’ aus dem Bett und fing den nächsten Lachs, der auf dem Fußboden schwamm, nahm sein Messer und schlitzte ihn von der Kehle bis zum Bauch auf, sodass die langen Rogenstränge wie Beeren in der Morgendämmerung schimmerten. Er schlürfte die zähflüssige Speise mit einem langen Schluck in sich hinein, wobei ihm Eier von den Fingern kullerten und vom Kinn rannen, und dann warf er den restlichen Fisch durch die Tür auf die Straße – der schlimmste Frevel. Raben und Bären und die Ärmsten des Clans ernährten sich von den toten Fischen, die davontrieben.
    Als das Hochwasser zurückgegangen war, doch noch immer Wochen vor der Geburt seiner letzten Tochter, streifte der werdende Vater auf der Suche nach laichendem Fisch durch den Wald bis zum Dorf Hoonah. Die salzige Erinnerung an den Rogen auf seinen Lippen lockte ihn wie der Duft einer Frau. Einige Männer hatten eine steinerne Fischfalle ins Meer gebaut, und spät in jener mondlosen Nacht schlich sich Yeikoo.shk’ hinaus, um Fischeier zu stehlen. Selbst in der Dunkelheit nahm er die schlüpfrigen Leiber wahr, die sich zwischen den dicken Steinen schlängelten, und mit zarten Fingerspitzen ertastete er den verräterisch gewölbten Bauch eines Eier tragenden Weibchens. Er nahm sein Messer zwischen die Zähne, um den riesigen Fisch zu befreien. Als er ihn am Bauch packte, zuckte der Fisch wie eine Peitsche und schlug ihm durch einen raschen Hieb mit seinem Schwanz die Klinge tief in die Zunge. Als Yeikoo.shk’ durch Blut und Schmerz hindurch fluchte, glitt er aus und schlug mit dem Kopf auf die Steine, während der Lachs davonschwamm. Die Männer von Hoonah fanden ihn am nächsten Morgen, Blut und Leben waren ihm aus dem Mund geflossen und trieben mit der Ebbe davon.
    »Eine traurige Geschichte«, sagte der alte Mann. »Pech für den Mann, der niemals seinen Sprössling kennenlernt, und noch trauriger für die Tochter, die niemals ihren alten Herrn erblickt.«
    Ich legte den Zeigefinger auf die Lippen und bat mit einem Nicken, die Frau möge ohne Unterbrechung weitererzählen.
    Nachdem ihr Vater sie verlassen hatte, begrüßte die Welt seine letzte Tochter. Als sie zwischen den Beinen ihrer Mutter zu Boden glitt, war sie nass und glitschig wie ein Fisch. Nachdem sie gewindelt und eingepackt war, war sie vollkommen. Ihre Eltern hatten geglaubt, es sei vorbei mit dem Kinderkriegen, und hatten tatsächlich das Kind, das vor diesem Baby geboren wurde, Jüngste der Töchter genannt. Dieses Mädchen nun wurde, als es Zeit war, ihm einen Namen zu geben, Shax’saani S’ee genannt – Puppe der Jüngsten Tochter, denn es sah genau wie eine Puppe aus, wenn es fest auf sein Wiegenbrett geschnürt mit großen Augen den wolkigen kalten Himmel absuchte, als wartete es darauf, dass jemand zurückkehrte. Für die vier
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