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Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)

Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)

Titel: Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
Autoren: Keith Donohue
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veränderte alles. Das Licht – wenn man es Licht nennen darf; vielleicht ist Schatten der Dunkelheit ein besserer Begriff – regte ein, zwei Nervenzellen tief in meinem Hirn an, und reflexartig kickte ich mit dem Fuß, und die Kiste zersprang. Eine Art Urknall – eine Rückkehr zum Bewusstsein, zu einem fließenden Seinszustand, noch etwas beengt, so als lebe man in einer Blase. Kein unangenehmer Übergang, irgendetwas zwischen Schlafen und Wachen. Der Raum dunkel, wenn auch nicht auf bedrückende Weise, sondern eher eine schützende Dunkelheit, an den Rändern eine Spur kühler. Die Luft selbst war schwerflüssig geworden und schmeckte entfernt nach Meer. Das Leben hatte sich auf einen Mondzyklus eingependelt.
    Die Stimmen schreckten mich auf, als sie hörbar wurden. Sie kamen von außerhalb und von oben und doch vom Inneren des Raums; zunächst schienen sie die Götter im Gespräch zu sein, meist ein Mann und eine Frau, doch manchmal war auch eine dritte oder vierte Person über ein höllisches Beschallungssystem zu hören, mit regelmäßig wiederkehrenden Ankündigungen, die schnarrten und die Wände zum Beben brachten. Die eigentlichen Worte waren kaum zu verstehen, obwohl hin und wieder doch ein Satz durchdrang. »Dabei mag ich doch gar keine Milch«, sagte die Frau. Und viel später, als der Mann rief: »Hey, schau, es schneit«, begriff ich, dass wir nicht mehr im Juni waren, vielleicht nicht einmal mehr im selben Jahr oder, wer weiß, im selben Jahrhundert. Natürlich war es viel zu dunkel um mich, um irgendetwas von dem zu erkennen, das draußen geschah, selbst wenn es mir irgendwie gelungen wäre, aufzustehen und ein Fenster zu finden. Denn ich war hier gefangen und kaum in der Lage, meinen Daumen mit dem Mund zu finden. Und als mir das Kunststück schließlich gelang, wurde mir bewusst, was hier drinnen wirklich vor sich ging.
    Bald werde ich wieder alles vergessen, was ich je wusste.
    Ich werde mich nicht mehr an die Nacht erinnern, als die sieben Frauen aus der Vergangenheit auftauchten, um von meinen schlimmsten Sünden zu berichten. Oder an den alten Mann, der in mir den Gedanken hervorrief, er sei Becketts Geist. Oder an den brabbelnden kleinen Jungen, den sprechenden Kater, die singenden Fenster, die Frauen in meinem Bett. Bald werde ich sogar diesen Raum vergessen, mein Haus und alle Poetik. Ich werde die Erinnerungen an meinen Bruder gegen neue Erfahrungen eintauschen, vielleicht mit einem anderen Bruder. Alles, was von Mutter und Vater übrig geblieben ist, wird verschwinden, ebenso jede Erinnerung an Freunde und Bekannte. Eine Lebenszeit voller Entscheidungen und Meinungen, die sorgsam konstruierte Persona, die wechselhaften Erfahrungen und die Hoffnungen und Verletzungen, alles wird vergehen. Schon jetzt verliere ich mich, mein Name entfällt mir. Sita, die Liebe meines Lebens, wird aus meinem Gedächtnis verschwinden.
    All das wird vollständig ausgelöscht sein, und selbst die einfachsten Dinge werden wieder neu erlernt werden müssen. Diese Stimmen da draußen werden meine neuen Wegweiser zur Sprache sein, sie werden mich lehren zu sprechen, zu gehen und feste Nahrung zu essen. Die materielle Welt wieder zu verstehen, aus Zeichen und Taten herauszulesen, was in einem anderen Herzen vorgeht. Irgendwer wird mir beibringen müssen, Recht von Unrecht zu unterscheiden und links von rechts, wie man zeichnet, was man isst, wie man sich die Schuhe zubindet, warum es am besten ist, immer ein sonniges Gemüt zu haben. Ich hoffe sehr, dass ich wieder mit den Schriften Bachelards vertraut gemacht werde. Aber wer wird mit mir über die Marx Brothers lachen? Wer wird mit mir auf Godot warten? Alles muss immer und immer wieder neu erlernt werden. Hier ist ein Tritt für dich, Lady, der dich daran erinnern soll, dass ich hier bin. Ich fülle den letzten freien Raum aus, dunkel, wie er ist, und wenn ich ihn ganz eingenommen habe und kein Platz mehr bleibt, werde ich hinabgleiten, hinaus in die Welt und ans Licht, um anzufangen.
    Nun geht es wieder los. Eine neue Chance, nicht nur mein Leben, sondern auch das vieler anderer zu verpfuschen. Eine neue Runde, ein neuer Wunschpfad, der mit oder ohne gelernte Lektionen zu begehen ist. Rundherum und rundherum und rundherum. Schon bald wird alldieses Gemurmel nur Gebrabbel und Gesabber sein. Die stehen gebliebene Uhr tickt wieder.
    Nun geht es wieder los. Eine neue Chance auf Leben.

Dank
    Mein Dank geht an John Glusman und Peter Steinberg. An Bill Pugh und Lee
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