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Sommer am Meer

Sommer am Meer

Titel: Sommer am Meer
Autoren: Rosamunde Pilcher
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ein bestürztes Gesicht, als bereue sie bereits, den Brief erwähnt zu haben.
    „Vielleicht war er nicht von Eustace.“
    „Doch.“
    „Woher willst du das wissen?“
    „Wenn er von jemand anderem gewesen wäre, dann hätte sie ihn mir gegeben, mit einer Ausrede, daß sie ihn versehentlich geöffnet hätte.“
    „Aber wir wissen nicht, was in dem Brief stand.“
    Virginia rutschte von der Tischkante. „Nein. Aber das werde ich herausfinden. Auf der Stelle. Bleibst du hier, bis die Kinder aufwachen? Sagst du ihnen, ich bin nicht lange weg?“
    „Aber wo willst du hin?“
    „Zu Eustace natürlich“, sagte Virginia, schon an der Tür.
    „Aber du hast deinen Kaffee nicht getrunken. Ich hab dir Kaffee gemacht, und du hast ihn nicht mal angerührt. Was willst du ihm sagen? Und wie willst du es erklären?“
    Aber Virginia war schon draußen. Alice sprach ins Leere. Mit einem zornigen Seufzer stellte sie ihre Kaffeetasse hin und ging zur Tür, wie um Virginia zurückzurufen, aber Virginia war schon außer Hörweite. Wie ein Kind rannte sie durchs hohe Sommergras querfeldein nach Penfolda.
    Sie nahm den Feldweg, weil es zu lange gedauert hätte, ins Auto zu steigen, zu wenden und über die Hauptstraße zu fahren. Und die Zeit war zu kostbar. Sie hatten schon zehn Jahre verloren, es durfte keine Minute mehr vergeudet werden.
    Sie lief durch einen heiteren Morgen, der nach Honig und Margeriten duftete und nach dem hohen Gras, das an ihre bloßen Beine klatschte. Das Meer lag in einem violetten Blau da, mit türkisfarbenen Streifen, und der dunstige Horizont verhieß große Hitze. Virginia rannte, ihre langen Beine nahmen auf den Mauertritten immer zwei Stufen auf einmal. Die Gräben der Stoppelfelder waren von roten Mohnblumen übersät, die Luft war von den gelben Blütenblättern des Stechginsters erfüllt, die der Seewind durcheinander blies wie Konfetti.
    Sie kam über das letzte Feld, und dann lag Penfolda vor ihr, das Haus und die langgestreckten Scheunen, der kleine Garten, von Mauern vor dem Wind geschützt. Sie stieg über den letzten Tritt, der in den Gemüsegarten führte, ging den Weg entlang und durchs Gatter. Sie sah die Katze mit ihren halbsiamesischen Jungen auf der Türstufe in der Sonne liegen, die Haustür stand offen, und sie ging hinein und rief nach Eustace. Das Haus wirkte dunkel, als sie aus dem blendenden Licht draußen kam.
    „Wer ist da?“
    Es war Mrs. Thomas, die, ein Staubtuch in der Hand, übers Treppengeländer spähte.
    „Ich bin's, Virginia. Virginia Keile. Ich suche Eustace.“
    „Er kommt gerade vom Melken...“
    „Danke.“ Ohne weitere Erklärungen abzuwarten, ging sie wieder nach draußen und wollte über die Wiese zum Kuhstall und zum Melkraum. Aber in diesem Moment kam er durch das Gatter, das in den hinteren Teil des Gartens führte. Er war in Hemdsärmeln, hatte eine Schürze und Gummistiefel an und trug einen blanken Aluminiumeimer mit Milch. Virginia blieb abrupt stehen. Er verriegelte das Gatter hinter sich, blickte auf und sah sie.
    Sie hatte sich vorgenommen, vollkommen sachlich zu sein, ruhig zu sagen: „Ich möchte dich nach dem Brief fragen, den du mir geschrieben hast.“ Aber es kam ganz anders. Denn alles war in dem langen Augenblick gesagt, als sie dastanden und sich ansahen, und dann stellte Eustace seinen Eimer hin und ging auf sie zu, und sie lief den Grashang hinunter und in seine Arme, und sie lachte, das Gesicht an seine Hemdbrust gedrückt. Und er sagte: „Ist ja gut, ist ja gut“, ganz so, als ob sie weinte und nicht lachte.
    „Ich liebe dich“, stammelte Virginia. Dann brach sie in Tränen aus.
     
    Er erzählte: „Natürlich hab ich angerufen. Drei- oder viermal. Aber du warst nie da. Immer war deine Mutter dran, und jedesmal kam ich mir dämlicher vor, und jedesmal sagte sie, sie würde dir ausrichten, daß ich angerufen habe und daß du zurückrufen würdest. Und ich glaubte, du hast es dir vielleicht anders überlegt. Ich glaubte, daß du vielleicht Besseres zu tun hättest, als mit jemandem wie mir und meiner Mutter Tee zu trinken. Ich vermutete, daß deine Mutter es dir ausgeredet hatte. Sie hatte von Anfang an nichts für mich übrig. Aber das hast du gewußt, oder?“
    „Ja. Aber ich hatte keine Ahnung, was los war. Einmal hätte ich dich beinahe angerufen. Ich dachte, du hättest es vielleicht vergessen. Aber dann verließ mich der Mut. Und dann entschied meine Mutter aus heiterem Himmel, wir müßten nach London zurück, und danach
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