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Sommer am Meer

Sommer am Meer

Titel: Sommer am Meer
Autoren: Rosamunde Pilcher
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genug. Er hat sein eigenes Leben. Er hat Penfolda.“
    „Hast du mit ihm darüber gesprochen?“
    „Ach, Alice...“
    „Offensichtlich nicht. Wie kannst du dann so sicher sein?“
    „Weil er damals gesagt hatte, er würde mich anrufen. Er sagte, er wolle, daß ich nach Penfolda zum Tee käme, seine Mutter würde mich gerne wiedersehen. Und ich wollte mir dein Auto leihen und hinfahren. Aber er hat nie angerufen. Und bevor ich herausfinden konnte warum oder irgend etwas unternehmen konnte, hat meine Mutter mich schleunigst zurück nach London verfrachtet.“
    „Und woher weißt du, daß er nicht angerufen hat?“ Alice' Ton wurde ungeduldig.
    „Weil er's nicht getan hat.“
    „Vielleicht hat deine Mutter das Gespräch angenommen.“
    „Ich habe sie gefragt. Und sie hat gesagt, es wäre kein Anruf für mich gekommen.“
    „Aber Virginia, sie war durchaus imstande, ein Gespräch anzunehmen und dir nichts davon zu sagen. Vor allem wenn sie den jungen Mann nicht leiden konnte. Das mußte dir doch klar sein.“
    Ihre Stimme war forsch und sachlich. Virginia starrte sie an, sie mochte ihren Ohren nicht trauen. Daß Alice so etwas über Rowena Parsons sagte - ausgerechnet Alice, die älteste Freundin ihrer Mutter. Alice kam mit der finsteren Wahrheit ans Licht, die zu entdecken Virginia selbst nie den Mut gehabt hatte. Sie erinnerte sich an das Gesicht ihrer Mutter, das sie im Eisenbahnabteil anlächelte, an ihren lachenden Protest. Liebes! Was für eine Anschuldigung! Natürlich nicht. Du hast doch nicht wirklich gedacht...
    Und Virginia hatte ihr geglaubt. Schließlich meinte sie hilflos: „Ich dachte, sie hätte mir die Wahrheit gesagt. Ich hatte nicht angenommen, daß sie lügen könnte.“
    „Sagen wir, sie war eine zielstrebige Person. Und du warst ihr einziges Kind. Sie hatte immer ehrgeizige Pläne mit dir.“
    „Du hast es gewußt. Du hast gewußt, wie sie war, und warst trotzdem ihre Freundin.“
    „Freunde sind keine Leute, die man aus einem besonderen Grund gern hat. Man mag Leute einfach, weil man mit ihnen befreundet ist.“
    „Aber wenn sie gelogen hat, dann muß Eustace geglaubt haben, ich wollte ihn nicht wiedersehen. Die ganzen Jahre hat er gedacht, ich habe ihn einfach versetzt.“
    „Aber er hat dir einen Brief geschrieben“, sagte Alice.
    „Einen Brief ?“
    „Ach Virginia, sei nicht so begriffsstutzig. Der Brief, der für dich gekommen ist. An dem Tag, bevor ihr nach London zurückgefahren seid.“ Virginia guckte immer noch verständnislos.
    „Ich weiß, daß ein Brief gekommen war. Mit der Nachmittagspost. Er lag auf dem Tisch in der Diele, und ich dachte, wie nett, weil du nicht oft Post bekamst. Und dann ging ich wegen irgendwas aus dem Haus, und als ich wiederkam, war der Brief nicht mehr da. Ich dachte, du hättest ihn genommen.“
    Ein Brief. Virginia sah den Brief. Sie stellte sich das weiße Couvert vor, schwarz beschriftet, an sie adressiert. Miss Virginia Parsons. Sie sah ihn unbeachtet und schutzlos auf dem runden Tisch liegen, der heute noch in der Diele von Haus Wheal stand. Sie sah ihre Mutter aus dem Wohnzimmer kommen, vielleicht auf dem Weg nach oben; sie blieb stehen, um die Nachmittagspost zu sichten. Sie trug das himbeerrote Kostüm mit der weißen Seidenbluse, sie streckte die Hand nach dem Brief aus, ihre Fingernägel waren in demselben Himbeerrot lackiert, die Anhänger ihres schweren goldenen Armbands klingelten wie Glöckchen.
    Virginia sah sie stirnrunzelnd die schwarzen Buchstaben betrachten, die männliche Handschrift, den Poststempel; sie zögerte vielleicht eine Sekunde, schob dann das Couvert in ihre Jackentasche und fuhr seelenruhig mit ihrem Tun fort, als sei nichts geschehen.
    Virginia sagte: „Alice, ich habe den Brief nie bekommen.“
    „Aber er war da!“
    „Verstehst du nicht? Mutter muß ihn genommen und vernichtet haben. Sie war dazu imstande. Alles um Virginias willen, wird sie sich gesagt haben. Zu Virginias Bestem.“
    Die Illusionen waren für immer dahin, der Schleier war zerrissen. Sie konnte kühl und objektiv zurückblicken und ihre Mutter so sehen, wie sie wirklich gewesen war, nicht nur snobistisch und zielstrebig, sondern auch unaufrichtig. Seltsamerweise war dies eine Erleichterung. Es hatte einige Mühe gekostet, in all den Jahren die Legende einer untadeligen Mutter aufrechtzuerhalten, selbst wenn Virginia damit niemanden getäuscht hatte als sich selbst. Jetzt, im Rückblick, wirkte ihre Mutter viel menschlicher.
    Alice machte
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