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Solar

Solar

Titel: Solar
Autoren: Ian McEwan
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Mensch würde doch wohl einem Mann in einem solchen Augenblick glauben? Offenbar hatte Darlene von seinem anderen Leben Wind bekommen und wollte ihn auf ihre draufgängerische Art zu einer Entscheidung zwingen. Das konnte nur auf eine Enttäuschung hinauslaufen, für einen oder für alle. Nichts Neues.
    Beard griff nach seinem Infrarot-Autoschlüssel, dessen beruhigende Gediegenheit für all die Meilen zu stehen schien, die er zwischen sich und Lordsburg bringen wollte. Das Vernünftigste wäre, sich zu verdrücken, irgendwo an der Interstate ein Zimmer zu nehmen, in Deming vielleicht, und - damit er sich ganz auf sein welthistorisches Ereignis konzentrieren konnte - Darlene und Melissa morgen den ganzen Tag lang aus dem Weg zu gehen; danach kämen sie dann an die Reihe, zusammen oder jede für sich allein. Hauptsache, er sah sie heute Abend nicht mehr. Doch während er zu seinem Auto ging, fand er es frustrierend, auf das Stelldichein mit Darlene zu verzichten. Das alte Parlament in seinem Kopf geriet in Aufruhr. Die beredte Stimme der Erfahrung erhob sich über den Lärm und wies darauf hin, dass seine Konzentration noch viel mehr leiden könnte, wenn er sich die lang herbeigesehnte Entspannung versagte. Er ignorierte diese Stimme und ging weiter. Manchmal musste ein Mann bereit sein, für die Wissenschaft, für das Wohlergehen künftiger Generationen Opfer zu bringen.
    Doch da kam die Erlösung. Er hatte kaum dreißig Schritte zurückgelegt, als hinter ihm jemand seinen Namen rief. Sie hatte unter dem Dach des Barbecuestands gewartet, keine hundert Meter entfernt, und kam jetzt mit ausgebreiteten Armen auf ihn zugewackelt. Er atmete erleichtert auf.
    Sie würden direkt in sein Motel gehen. Die Entscheidung war ihm aus der Hand genommen.
    Sie wusste schon, warum sie ihn nicht fragte, weshalb er in die falsche Richtung gegangen war. Arm in Arm bummelten sie am Spalier grüner Latrinen entlang zum Parkplatz. Dort angekommen, fand sie es besser, ihr Auto stehen zu lassen und seins zu nehmen. Dagegen hatte er nichts einzuwenden, außer dass er dann nicht nur heute Abend, sondern auch morgen früh an sie gebunden wäre. Genau das war zweifellos ihre Absicht. Während er den Wagen nach Lordsburg steuerte, glitt ihre linke Hand über seinen Schoß, und während sie ihn unaufhörlich streichelte, erzählte sie ihm, was sie alles mit ihm machen würde, wenn sie erst einmal auf dem Zimmer wären. In Trance, ohne einen anderen Gedanken im Kopf, bog er in die Einfahrt zum Motel ein und hielt vor seinem üblichen Zimmer. Wie ferngesteuert ging er an die Rezeption und checkte ein. Wenig später ruhte ihr erregtes Fleisch auf kühlen Laken hinter einer zweifach verriegelten Tür. Vor zehn Jahren, als er noch glaubte, sich durch sportliche Betätigung retten zu können, hätten ihn sein aufgedunsener Körper und die Ziehharmonika seines Kinns ebenso schockiert wie die Rettungsringe der Frau, die er da streichelte, und der Schweißgeruch, wie frischgemähtes Gras, den ihrer beider Achselhöhlen, Lenden und Kniebeugen verströmten, verborgene Körperregionen, die selten mit Licht und Luft in Berührung kamen. Doch alles war so prickelnd wie eh und je. Sie war eine zärtliche, raffinierte Liebhaberin, sie saugte und leckte und neckte und zog ihn feucht in sich hinein, doch als er kurz davor war zu kommen, achtete er geistesgegenwärtig darauf, dass ihm kein weiteres Eheversprechen herausrutschte.
    Hinterher lagen sie Seite an Seite. Sie stützte sich schwer auf einen Ellbogen, sah verliebt auf ihn herunter und spielte mit den wenigen Haarbüscheln, die ihm hinter seinen Ohren noch geblieben waren. Er hatte die Augen zu.
    »Michael?«, flüsterte sie. »Schatz?«
    »Mm.«
    »Hab ich dir schon mal gesagt, dass ich dich liebe?«
    »Ja...« Er hatte gerade mit seltsamer Klarheit an seinen alten Freund gedacht, das Photon, und ein Detail aus Tom Aldous' Notizen über die Verdrängung von Elektronen. Möglicherweise ließ sich ein kostengünstiges Verfahren für eine verbesserte zweite Generation von Paneelen entwickeln. Wenn er nach London zurückkam, würde er den Staub von dieser Akte pusten. Er wiederholte zufrieden: »Ja.«
    »Michael?«
    »Mm.«
    »Ich liebe dich. Und weißt du was?«
    »Mm.«
    »Du gehörst nur mir allein, ich lasse dich niemals gehen.«
    Er machte die Augen auf. Wie überaus lästig, dass Frauen nach dem Sex noch genauso intim bleiben wollten wie vor dem Sex, statt kurzerhand ihre Gefühle auf null zu stellen.
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