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Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr

Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr

Titel: Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
Autoren: Hollow Skai
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Intro: Für immer und dich
    »Die Wurzel der Pläne ist das Herz.
    Vier Reiser wachsen daraus hervor:
    Gutes und Böses, Leben und Tod.
    Doch die Zunge hat Gewalt über sie alle.«
    JESUS SIRACH
    An Rio Reisers Tod kann ich mich noch ganz genau erinnern. Ich hörte davon im Autoradio, und als ich zu Hause angekommen war, legte ich sein Album Himmel & Hölle auf, das das letzte sein sollte, das er für CBS/Sony produziert hatte, und das nun sein letztes überhaupt war: »Träume verwehn …«
    Ein paar Tage später fuhr ich mit der Komikerin Marlene Jaschke und Corny Littmann vom Hamburger Schmidt-Theater zur Trauerfeier in der Sankt-Willehad-Kirche von Leck. Die Predigt ging an mir ziemlich vorüber, weil ich an all die Konzerte denken musste, die ich in den vergangenen 25 Jahren besucht hatte, um ihn auf der Bühne sterben und wieder auferstehen zu sehen. Und als ich hinterher, nachdem das Lied Sternchen von seinem roten Album verklungen war und der Sarg hinausgetragen wurde, dem einen oder anderen Freund und Bekannten auf dem Parkplatz gegenüberstand, umarmten wir uns tränenreich, unfähig miteinander zu reden, weil allen die Stimme versagte.
    Im Konvoi ging es zur Beerdigung nach Fresenhagen, zu jenem Bauernhof, auf den Ton Steine Scherben 1975 aus Berlin geflüchtet waren und der Rio stets ein Fluchtpunkt geblieben war, auf den er sich zurückziehen konnte, wenn er mal wieder mit der Welt und dem verdammten Business haderte oder sich von einer unglücklichen Liebe erholen musste. Wo er aber auch Songs schrieb, die einem zu Herzen gingen, egal, wie traurig oder beschwingt sie auch waren. Und was kann man schon Besseres über einen sagen, als dass er einen be- oder gerührt hat?
    Als sein Sarg in die hinter dem Haus ausgehobene Grube gesenkt wurde, blickte ich in die Runde und sah nur Gesichter, deren Augen ebenso gerötet waren wie meine. Lutz Kerschowski, sein letzter Gitarrist, hatte sich extra für diesen Anlass ein T-Shirt mit der Aufschrift »Rio Grande« angezogen. Ich sah Lanrue, der nicht in der Kirche gewesen war und völlig abwesend zu sein schien angesichts des Todes seines Freundes, mit dem er dreißig Jahre lang zusammengelebt hatte. Und ich beobachtete, wie einer nach dem anderen vortrat und eine Hand voll Erde in die Grube warf. Der Traum war aus, aber Rio hatte alles gegeben, dass er Wirklichkeit wird. Denn sein Name war Mensch.
    Martin Paul war da, der liebenswerte und sympathische Keyboarder der Scherben, Kai Sichtermann, ihr stets etwas wortkarger und schüchterner Bassist, Funky K. Götzner, der Drummer mit dem großen Herzen, Nikel Pallat, das alte Schlitzohr, und der Gitarrist Dirk Schlömer, den ich erst viel später näher kennen lernen sollte. Die Frauen von Carambolage natürlich, Angie Olbrich, Elfie Steitz und die wunderbare Britta Neander, die Rio im Jahr 2004 nachfolgte. Ich traf George Glueck wieder, Rios Manager, seine Produzentin Annette Humpe und nicht zuletzt Claudia Roth, mit der ich eng zusammengearbeitet hatte, als sie noch Managerin der Scherben war und ich ein kleines Punk-Label in Hannover betrieb – No Fun.
    Ich dachte an meinen Freund Mathe, der mir 1970 das erste Scherben-Album Warum geht es mir so dreckig? vorgespielt hatte, an all die Stunden, in denen ich meinen Liebeskummer mit Songs wie Schritt für Schritt ins Paradies oder Komm schlaf bei mir bekämpft hatte, und an das von dem Kabarettisten Dietrich Kittner organisierte Arbeiter-Song-Festival im September 1971, auf dem ich die Scherben zum ersten Mal live gesehen habe. An ihr Konzert vom 8. Januar 1973 im völlig überfüllten UJZ Kornstraße in Hannover, bei dem das Schwitzwasser von den Wänden lief, und an Rios Auftritt nach der Wende in einem Löwenkäfig in Berlin-Hellersdorf. Mir fiel wieder ein, dass wir ihn, als er zum König von Deutschland gekürt wurde, für das hannoversche Stadtmagazin Schädelspalter in den Herrenhäuser Barockgärten zusammen mit der Kurfürstin Sophie fotografieren ließen, wie ich ihn in seiner Fresenhagener Küche für den stern und im Hamburger Sony-Büro für den Rolling Stone interviewt hatte, wie ich von ihm im Ottenser Boogie-Park-Studio bekocht wurde und wie er mir bei einem Schmidt-Geburtstag in trunkenem Zustand an die Kehle gegangen war – warum, habe ich nie erfahren.
    Drei Monate vor seinem Tod hatte ich ihn noch einmal live erlebt, auf der Bühne des Hamburger Tivoli – und jetzt war er tot. Und doch noch immer lebendig. Denn seine Lieder lebten weiter und
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