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Nordseefluch: Kriminalroman

Nordseefluch: Kriminalroman

Titel: Nordseefluch: Kriminalroman
Autoren: Theodor J. Reisdorf
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    Mein Vetter Hannes aus Grevenbroich hatte sich im besten und teuersten Hotel der Insel Juist einquartiert und uns zu einem kostenlosen Wochenendbesuch eingeladen. Meiner Frau war der Besuch nicht nach der Nase. Sie befürchtete, mein trinkfester Vetter würde mich mit Beschlag belegen, während sie mit unseren Söhnen in einem kahlen Hotelzimmer sitzen würde.
    Als wir am Schiffsanleger die voll besetzte »Frisia X« verließen und uns – nur mit kleinem Gepäck belastet – in Richtung Dorf begaben, umfing uns der Charme der Insel. Der blaue Himmel zeigte keine Wolke und der leichte Seewind half, die Hitze zu ertragen. Wir gingen über die Bahnhofstraße und bogen in die Wilhelmstraße ein. Ich wusste, dass wir eine Abkürzung finden konnten, wenn wir ein Stück der Marktstraße folgen würden.
    Überrascht blieb ich stehen. Manfred Kuhnert, ein Schüler, der mir mit seinen vielen Fehlstunden Sorgen und Ärger bereitet hatte, bevor er von der Schule abgegangen war, bediente im weißen Kittel unter einem Baldachin eine Softeismaschine. Seine gebräunte Hand lag auf dem Hebel und gelbes und braunes Eis floss in ein Hörnchen. Ich beobachtete, wie er es einem halbwüchsigen hübschen blonden Mädchen mit einem Pferdeschwanz reichte und zu ihm sagte: »Hier, nimm.« Ich sah, dass das Mädchen nach seiner kleinen weißen Plüschhandtasche griff, doch Manfred schüttelte den Kopf und sagte: »Ich schenke es dir.«
    Das Mädchen, das eine gelbe Latzhose und ein marineblaues T-Shirt trug, lächelte und nickte dankend. Dann stopfte es sich mit der Linken die kleinen Kopfhörer ihres MP3-Players in die Ohren und ging davon.
    Im Sonnenlicht leuchtete der winzige Ring in Manfreds Ohr auf. Es war ein Minianker, den er nach alter Seemannsmanier trug. Sein Gesicht zeigte bereits eine gute Bräune. Ich trat zu ihm.
    »Hallo, Manfred, wie geht es dir?«, fragte ich ihn und hatte den Schulärger vergessen.
    Manfred war elternlos in Hage im St. Nikolausstift aufgewachsen.
    »Hallo, Herr Färber. Wie Sie sehen, kann ich nicht klagen. Oberschwester Ursula hat mir den Job und auch eine Bude besorgt.«
    »Zwei Eis für meine Söhne«, sagte ich und wies auf meine Familie, die vor dem Schaufenster des See-Shops wartete.
    Ich bezahlte und roch den starken Alkoholdunst seines Atems.
    Er reichte mir die Hörnchen und sagte: »Tschüss.«
    Als wir uns dem Strandschlösschen näherten, fragte meine Frau: »Wer war der Junge?«
    »Ein ehemaliger Schüler«, sagte ich. »Er hat das Rennen aufgegeben. Er wollte die Welt verbessern. Nun verkauft er Eis.«
    Ich freute mich auf den Anblick des Meeres, der uns in wenigen Minuten bevorstand.
    Niemand von uns konnte ahnen, welche schicksalhaften Folgen die Begegnung mit Manfred Kuhnert nach sich ziehen würde. Im Gegenteil, der Blick von der Strandpromenade auf das blaue Meer, vor dem sich der Sandstrand hinzog, erfüllte uns mit Freude. Bunte Strandkörbe saßen wie Farbtupfer im zerfließenden Gelb und die Wellen liefen schaumig in Weiß aus. Strandhafer neigte sich im lauen Wind, der über die Dünen strich.
    »Wenn die Sonne scheint, ist Juist schöner als Mallorca«, sagte meine Frau.
    Unsere Söhne liefen voller Vorfreude dem Hotel entgegen. Im Strandschlösschen händigte uns ein Angestellter an der Rezeption die Schlüssel aus und schob uns einen Brief zu.
    Mein Vetter Hannes teilte uns mit, dass die Zimmer bezahlt waren und wir uns um neunzehn Uhr im Restaurant des Hotels treffen würden. Wir suchten die Zimmer auf und machten uns ein wenig frisch.
    Meine Söhne, meine Frau und ich setzten uns an den feierlich gedeckten Tisch, den uns der Ober anwies. Um uns herum befanden sich Gäste, denen wir ansahen, dass sie zu der gehobenen Schicht zählten, die sich mehr leisten konnte.
    Mein Vetter Hannes, ein schwergewichtiger, gemütlicher und gutmütiger Typ, erschien. Er lachte verschmitzt, zeigte auf die Schönheit, die sich lächelnd neben ihn setzte und uns heimlich musterte.
    Hannes sagte laut: »Evi ist ab heute meine Verlobte!«
    Die Überraschung war perfekt. Hannes hatte keine Lust verspürt, das Verlobungsfest zu Hause bei seiner ständig nörgelnden Mutter zu feiern, und wir begriffen, dass er es als eine Ehre für uns betrachtete, mit ihm das Fest feiern zu dürfen. Wir gratulierten und versprachen, ein Geschenk nachzureichen.
    Der Tisch stand so, dass wir alle durch das Fenster aufs Meer schauen konnten. Im abgeschrägten Winkel blickten wir von oben herab auf die schaumgekrönten
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