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Solar

Solar

Titel: Solar
Autoren: Ian McEwan
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ums Handgelenk einzigartig war oder nicht Mike hieß. Selbst Jock Braby nannte alle sechs nur »die Pferdeschwänze«.
    Keiner dieser jungen Männer trat dem Nobelpreisträger Michael Beard mit der Ehrfurcht entgegen, die er von ihnen hätte erwarten dürfen. Natürlich kannten sie seine Arbeit, bezogen sich auf Sitzungen aber nur beiläufig darauf, in geringschätzigem Tonfall, als sei sie längst überholt, dabei war das Beard-Einstein-Theorem ganz im Gegenteil in zahlreichen Experimenten bestätigt worden und nicht mehr aus den Lehrbüchern wegzudenken. Im Studium hatten die Pferdeschwänze mit Sicherheit eine Vorführung des »Feynman-Knotens« zur Erläuterung des topographischen Kerns von Beards Arbeit erlebt. Aber bei zwanglosen Treffen in der Kantine wurden diese Riesenbabys zu Frontkämpfern der theoretischen Physik und drucksten um das Theorem herum, diese geniale Verschmelzung von Beard und Einstein, als ginge es um die verstaubten Thesen Sir Humphrey Davys, sie machten rätselhafte Anspielungen auf blg oder irgendwelche ausgereizten Fragen der M-Theorie oder Nambu-Lie 3-Algebra, als ob das eine irgendetwas mit dem anderen zu tun hätte. Und das war das Problem. Er kam da kaum noch mit. Die Pferdeschwänze sprachen rasend schnell und schienen hinter jede ihrer Aussagen ein Fragezeichen zu setzen. Beard schnürte es die Kehle zu, wenn er das hörte. Sie drückten sich unklar aus, verfolgten keinen Gedanken zu Ende, zwischendurch brummte jemand Zustimmung, und schon sprangen sie zur nächsten Sprecheinheit - von Sätzen konnte keine Rede sein.
    Ja das war noch nicht alles. Sie warfen mit physikalischen Theorien um sich, die er kaum dem Namen nach kannte. Und wenn er sie zu Hause nachschlug, geriet er über die Komplexität der Rechenmodelle in Rage. Er hielt sich für einen alten Hasen, dem die String-Theorie und ihre wichtigeren Varianten geläufig waren. Doch heutzutage gab es einfach zu viele Erweiterungen und Modifikationen. Als Beard zwölf war, hatte der Mathelehrer ihnen im Unterricht erklärt, wenn sie bei einer Prüfungsaufgabe elf Neunzehntel oder dreizehn Siebenundzwanzigstel herausbekämen, könnten sie davon ausgehen, dass sie sich verrechnet hätten. So krumme Zahlen könnten nicht stimmen. Stundenlang beschäftigte sich Beard, die Stirn so heftig in Falten gelegt, dass die rosa Linien noch am nächsten Morgen zu sehen waren, mit den neuesten Forschungsergebnissen zu Bagger, Lambert und Gustavsson - blg ! Das war es also - und ihrer Lagrangeschen Beschreibung von M2-Branes. Gott mochte würfeln oder nicht würfeln, aber ein solcher Klugscheißer oder Angeber war er garantiert nicht. So kompliziert konnte die erfahrbare Welt einfach nicht sein.
    Wohl aber die häusliche Welt. In Beards Katalog gescheiterter Ehen hatte sich keine - durch sein eigenes Zutun - so blödsinnig lange hingezogen, keine hatte ihn so geschwächt und derart lächerliche Tagträume und verstiegene Verrücktheiten und eine solche Gewichtszunahme mit sich gebracht wie diese seine fünfte und letzte. Nie war er in diesen endlosen Monaten ganz er selbst, ja bald verlor er sich vollkommen und verharrte in einer milden Psychose. Er hörte Stimmen, er sah plötzlich Dinge - ihre funkelnde Schönheit zum Beispiel -, die er später als inexistent abtat. Die körperlichen Auswirkungen waren wie aus dem Lehrbuch. Etliche kleinere Beschwerden überlisteten das Immunsystem, das ihn eigentlich schützen sollte. Krankheitserreger schwammen durch die Gräben seiner Verteidigungsanlagen und erklommen die Festungsmauern, bewaffnet mit Fieberbläschen, Mundschleimhautgeschwüren, Erschöpfungszuständen, Gelenkschmerzen, wässrigen Durchfällen, Nasenpickeln, Blepharitis - Letzteres war etwas Neues, eine unschöne Entzündung der Augenlider, auf die ganze Fudschijamas von Gerstenkörnern folgten, deren schneebedeckte Gipfel auf die Augäpfel drückten, so dass er nur noch verschwommen sah. Schlaflosigkeit und Zwangsvorstellungen verzerrten ebenfalls seine Sicht, und wenn er dann doch endlich einschlief, gemahnte ihn eine Stimme wie die eines Nachrichtensprechers an seinen erbärmlichen Zustand, wenn auch nicht in Worten, die er verstehen konnte. Darüber hinaus litt er unter der berechtigten Verzweiflung eines Betrogenen, dessen Frau sich trotz ihres inzwischen verblassenden Veilchens weiterhin mit triumphierender Miene und aufgesetzter Munterkeit durchs Haus bewegte und sich jedes Mal entzog, wenn er ein ernsthaftes Gespräch anfangen
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