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Solar

Solar

Titel: Solar
Autoren: Ian McEwan
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wollte. Der Mund ist im Gehirn bekanntermaßen überrepräsentiert: Ein winziger Riss in der aufgesprungenen Unterlippe kam ihm vor wie eine grässliche Narbe, ein Brandmal. Wie konnte sie ihn jemals wieder küssen? Nie mehr würde sie sich ihm annähern, nie mehr sich von ihm herausfordern oder anklagen, nie mehr sich von ihm lieben lassen.
    Ja, ja, er war ein verlogener Schürzenjäger, es geschah ihm recht - aber was sollte er sonst noch tun, außer seine Strafe hinnehmen? Welchen Gott sollte er denn um Vergebung bitten? Es stand ihm bis obenhin. Er hatte sich lange genug an schwachsinnige Hoffnungen geklammert, jetzt wollte er sich auf seine Briefe und E-Mails konzentrieren, vielleicht war doch einmal eine akzeptable Einladung dabei, die ihn aus Belsize Park herausholen und seinem kläglichen Dasein wieder etwas Selbständigkeit einhauchen würde. Jahrein, jahraus bekam er wöchentlich ungefähr ein halbes Dutzend, doch bis jetzt hatten ihn alle diese Verlockungen kaltgelassen, Vorträge an den noblen Gestaden norditalienischer Seen oder in wenig aufregenden deutschen Schlössern zu halten, Einladungen, das Theorem zum zigsten Mal in Sälen voller Kollegen in Neu-Delhi oder Los Angeles zu erörtern - er fühlte sich einfach zu schwach, zu angreifbar. Was genau er wollte, wusste er selber nicht, vertraute aber darauf, dass er schon zuschlagen würde, wenn sich die Gelegenheit bot.
    Bis auf weiteres aber empfand er es - in der Regel - als Wohltat, einmal die Woche mit dem schmuddeligen Zug von Paddington nach Reading zu fahren, wo er am zwischen Hochhäusern eingepferchten viktorianischen Bahnhof von einem der Pferdeschwänze mit dem institutseigenen Prius abgeholt und die letzten paar Meilen chauffiert wurde. Sein Haus verließ Beard wie eine straff gespannte Saite, deren monotone Schwingungen immer geringer wurden, je mehr Belsize Park in die Ferne rückte und der kostspielige Stacheldrahtzaun näher kam. Ganz endete das Vibrieren erst, wenn er mit lässig erhobenem Zeigefinger den freundlichen Gruß der Wachleute erwiderte - wie sie den Boss liebten! - und unter dem emporschwebenden rotweißen Schlagbaum hindurchbrauste. Meist kam Braby ihm entgegen und öffnete ihm mit einer Andeutung von Ironie diensteifrig den Wagenschlag, denn hier traf kein Betrogener ein, sondern ein erlauchter Gast, der Chef persönlich, auf den man angewiesen war, der sich in den Medien für das Institut einsetzte, bei den Energiekonzernen um Gelder warb und dem großmäuligen Minister die nächste Viertelmillion herausleierte.
    Die beiden Männer begannen den Tag mit einem Kaffee. Man sprach über Fortschritte und Verzögerungen, Beard notierte sich, was von ihm erwartet wurde, und machte dann einen Rundgang. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit hatte er einmal beiläufig bemerkt, zusätzliche Mittel wären leichter zu beschaffen, wenn das Institut sich auf ein einziges spektakuläres Projekt konzentrieren würde, mit dem Steuerzahler und Medien etwas anfangen könnten. Und so hatte man wudu lanciert, eine Windturbine für Stadtdächer, ein Spielzeug, mit dem jeder Hausbesitzer seine eigene Energie erzeugen und damit die Stromrechnung beträchtlich senken konnte. Da der Wind in der Stadt nicht so gleichmäßig aus einer Richtung wehte wie auf dem offenen Land, erhielten die Physiker und Ingenieure den Auftrag, eine für Windturbinenschaufeln unter turbulenten Bedingungen optimale Form zu entwickeln. Beard hatte einen alten Freund bei der Royal Aircraft in Farnborough aufgetrieben, der ihm Zugang zu einem Windkanal verschaffen konnte; zunächst aber waren einige verzwickte mathematische und aerodynamische Fragen zu lösen, wobei es um Teilgebiete der Chaostheorie ging, für die er selbst nur wenig Geduld aufbrachte. An Technik hatte er noch weniger Interesse als an Klimawissenschaft. Er hatte gedacht, der Entwurf erfordere lediglich ein paar Berechnungen; dann würden drei oder vier Prototypen gebaut und im Windkanal getestet. Aber es mussten weitere Spezialisten hinzugezogen werden, da sich ständig neue Probleme ergaben: Vibration, Lärm, Kosten, Höhe, Scherwinde, gyroskopische Präzession, Schwingbeanspruchung, Dachbelastbarkeit, Werkstoffe, Transmission, Wirkungsgrad, Phasenangleichung mit dem Versorgungsnetz, Zulassungsverfahren. Was wie eine Flause begonnen hatte, entwickelte sich zu einem Monster, das sämtliche Ressourcen des erst halbfertigen Instituts verschlang. Doch jetzt war es zu spät, einen anderen Weg einzuschlagen.
    Die
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