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Solar

Solar

Titel: Solar
Autoren: Ian McEwan
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London führenden Autobahn und im Schatten einer Bierbrauerei, gab es ein neues staatliches Forschungsinstitut. Es war dem National Renewable Energy Laboratory in Golden, Colorado, unweit von Denver, nachempfunden, verfolgte die gleichen Ziele, war aber kleiner und finanziell nicht so üppig ausgestattet. Michael Beard war der Direktor des neuen Instituts, die Knochenarbeit wurde von einem älteren Beamten namens Jock Braby verrichtet. Der Verwaltungstrakt, dessen Zwischenwände teilweise asbestbelastet waren, war ebenso wenig neu wie die Laborgebäude, in denen man ursprünglich Baumaterial auf schädliche Inhaltsstoffe getestet hatte. Neu war lediglich ein drei Meter hoher Stacheldrahtzaun, zwischen dessen Betonpfosten in regelmäßigen Abständen Warnschilder hingen. Der Zaun war ohne Beards oder Brabys Zustimmung um das Nationale Institut für Erneuerbare Energien errichtet worden und hatte, wie sie bald herausfanden, siebzehn Prozent des ersten Jahresetats verschlungen. Von einem Bauern aus der Gegend hatte man ein fünf Hektar großes Sumpfgelände hinzugekauft; erste Arbeiten für die Trockenlegung waren in der Planungsphase.
    Beard persönlich trieb der Klimawandel gar nicht so sehr um. Für ihn war das Thema eines unter vielen auf einer lan gen Liste von bedrohlichen Entwicklungen, die den Basso continuo der Nachrichten bildeten; er las darüber, fand es irgendwie beklagenswert und ging davon aus, dass die Regierungen sich schon darum kümmern würden. Natürlich wusste er, dass Kohlenwasserstoffmoleküle Energie im Infrarotspektrum absorbierten und dass die Menschheit beträchtliche Mengen dieser Moleküle in die Atmosphäre pustete. Aber er selbst hatte andere Sorgen. Was gingen ihn die wüsten Kommentare an, wonach die Welt in »Gefahr« sei und die Menschheit auf eine Katastrophe zutreibe: Küstenstädte, die von den Fluten verschlungen würden, Missernten, Hunderte Millionen Flüchtlinge, die von einem Land, von einem Kontinent zum anderen zogen, getrieben von Dürre, Überschwemmungen, Hungersnot, Unwettern und endlosen Kriegen um schwindende Rohstoffe. Die Warnungen hatten etwas Alttestamentarisches, etwas von Beulenpest und Froschregen; in seinen Augen deutete das nur darauf hin, dass der Mensch über die Jahrhunderte hinweg immer wieder zu dem Glauben neigte, er selbst lebe in einer Endzeit, wodurch der eigene Tod mit dem Ende der Welt zusammenfiel, was ihm einen höheren Sinn verlieh oder ihn zumindest etwas weniger unbedeutend erscheinen ließ. Das Ende der Welt wurde nie in die Gegenwart gelegt, wo es sich umgehend als Hirngespinst entlarven würde, sondern stets in die nahe Zukunft, und wenn es dann nicht eintrat, kam bald ein neues Szenario, ein neues Datum auf. Die alte Welt, geläutert in einer Feuersbrunst, reingewaschen durch das Blut der Unerlösten: So hatten es die christlichen Millenniumssekten gesehen - Tod den Ungläubigen! Und die Sowjetkommunisten - Tod den Kulaken!
    Und die Nazis mit ihrem Wahn vom Tausendjährigen Reich - Tod den Juden! Schließlich das wahrhaft demokratische zeitgenössische Gegenstück, der totale Atomkrieg - Tod der ganzen Welt! Als dieser ausblieb, das sowjetische Imperium an seinen inneren Widersprüchen zugrunde ging und es außer der unspektakulären, unausrottbaren globalen Armut keine wirklich überwältigenden Nöte mehr gab, da hatte das Endzeitdenken die nächste biblische Plage aus dem Hut gezaubert.
    Beard war immer auf der Suche nach gutbezahlten Ämtern und Pfründen. Ein paar waren vor kurzem weggefallen, und das Professorengehalt samt Honoraren für Vorträge und Medienauftritte reichte hinten und vorne nicht. Zum Glück wollte die Blair-Regierung am Ende des Jahrhunderts sich nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten im Kampf gegen den Klimawandel engagieren, oder wenigstens so tun als ob. Sie kündigte eine Reihe von Maßnahmen an, für eine davon stand ihr Institut, an dem Grundlagenforschung betrieben werden sollte; fehlte nur noch ein Sterblicher an der Spitze, der ihm etwas Stockholmer Glanz verlieh. Auf politischer Ebene wurde ein neuer Minister ernannt, ein ehrgeiziger Populist aus Manchester, der stolz auf die industrielle Vergangenheit seiner Stadt war und auf einer Pressekonferenz erklärte, er wolle »den Erfindergeist« der Briten »anzapfen« und fordere sie daher auf, ihre Ideen und Konstruktionszeichnungen zur Gewinnung sauberer Energie einzureichen. Vor laufenden Kameras versprach er, man werde jede einzelne Zuschrift
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