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So still die Toten

So still die Toten

Titel: So still die Toten
Autoren: Mary Burton
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zielstrebig, mit einer Energie, die nicht recht zu dieser nächtlichen Stunde zu passen schien. Sie tauchte unter dem Absperrband hindurch und schüttelte Garrison, Malcolm und Paulie die Hand. Ihr Händedruck war schnell und fest, ihre Hände klein, fast schon zart, die Nägel kurz geschnitten. Malcolm hatte diese Finger bei der letztjährigen Weihnachtsfeier der Pathologie ebenso geschickt Gitarre spielen sehen, wie sie sonst bei Autopsien mit dem Bolzenschneider einen Brustkorb öffneten.
    »Paulie hat mir gesagt, Sie haben hier einen ungewöhnlichen Fall.« Sie hob niemals die Stimme, doch das tat ihrer Autorität keinen Abbruch.
    »Im Moment haben wir nur Knochen«, sagte Malcolm.
    »Sehen Sie sich mal die Fotos an.« Paulie schaltete das Display seiner Kamera ein.
    Dr. Henson blinzelte, klickte sich durch mehrere Bilder und gab Paulie die Kamera dann zurück. »Die Knochen sind jetzt im Leichensack?«
    »Genau«, sagte Malcolm.
    Die Pathologin nickte, ging an ihm vorbei, zog Handschuhe über und schaute in den Leichensack. Vorsichtig nahm sie einen Knochen heraus und betrachtete ihn unter dem grellen Scheinwerferlicht. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen.
    »Und was denken Sie, Doc?«, fragte Malcolm.
    »Wie lange waren die Knochen der Witterung ausgesetzt?«, fragte sie.
    »Die Jungs sagen, sie seien gestern durch den Park gekommen. Anscheinend ist der Unterstand ihr Lieblingstreffpunkt«, erklärte Garrison. »Hier dealen sie mit Drogen. Wie auch immer, gestern waren hier noch keine Knochen.«
    Dr. Henson runzelte die Stirn. »Wir können also davon ausgehen, dass die Knochen gestern am späten Abend oder heute früh hier deponiert wurden.«
    »Aufgestapelt wie Bauklötze.«
    »Sie sind wohl der Einzige, der Knochen mit Kinderspielzeug vergleichen würde, Detective Kier. C . G. Jung hätte seine helle Freude an Ihrer Kindheit.«
    Unbeeindruckt hielt Malcolm ihrem Blick stand. »Meine Kindheit war normal, ich war nur kein normales Kind.«
    »Wer kann das schon von sich sagen?«, meinte Garrison. »Normale Menschen würden nicht um ein Uhr morgens Knochen anstarren.«
    Dr. Henson, der die tiefere Wahrheit in seinen Worten nicht entging, nickte. »Sie waren also nicht der Witterung ausgesetzt?«
    »Jedenfalls nicht hier«, sagte Malcolm.
    »Interessant.« Sie schaute erneut in den Leichensack und nahm den Schädel heraus. »Das Opfer ist weiblich.«
    Malcolm sah sie überrascht an. »Woher wissen Sie das?«
    »Die zarten Schläfen und die hohen Wangenknochen sind Charakteristika, die auf eine Frau hindeuten. Ich würde außerdem vermuten, dass sie weiß und etwa dreißig Jahre alt war.«
    Der Detective machte Notizen. »Und warum?«
    Dr. Henson fuhr mit dem Finger über das Schädeldach. »Die engen Nasendurchgänge deuten auf eine Weiße hin. Und sehen Sie diese Linien hier oben?«
    »Ja.«
    »Die entstehen erst mit Mitte zwanzig.«
    »Tatsächlich?«
    »Wenn man sie zu deuten versteht, können Knochen Geschichten erzählen.« Behutsam legte sie den Schädel zurück in den Leichensack. »Diese Knochen hier sind nicht brüchig oder alt, wie es lange Zeit nach dem Tod der Fall wäre.«
    »Irgendwelche Vermutungen, was den Todeszeitpunkt angeht?«
    Dr. Henson hob eine sorgfältig gezupfte Augenbraue, und erstmals sah er so etwas wie Belustigung in ihren Augen. »Tut mir leid, aber dafür brauche ich etwas länger.«
    »Fragen schadet ja nichts.«
    »Ich würde vorschlagen, Sie nehmen Verbindung mit der Vermisstenstelle auf und erkundigen sich nach weißen Frauen zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig.«
    Malcolm holte sein Handy aus der Tasche an seinem Gürtel. »Steht ganz oben auf meiner Liste, Doc.«

2
    Mittwoch, 5. Oktober, 6:01 Uhr
    Die Vermisstenstelle hatte vier Frauen, bei denen es sich um Malcolms Opfer handeln konnte. Zwei Prostituierte, eine Drogenabhängige und eine Schauspielerin. Malcolm versuchte, mit den Leuten Kontakt aufzunehmen, die die Prostituierten und die Drogenabhängige vermisst gemeldet hatten, aber bei den Telefonnummern, die in den Berichten vermerkt waren, nahm niemand ab. Nicht sehr überraschend. Prostituierte und Drogenabhängige lebten am Rande der Gesellschaft, und ihre Beziehungen waren eher unverbindlich. Das machte sie auch zu leichter Beute für Mörder.
    Die Letzte auf der Liste war die Schauspielerin. Sierra Day. Terry Burgess, der Mann, der die Vermisstenmeldung aufgegeben hatte, leitete das West End Theater und führte außerdem bei Sierras neuestem Stück
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