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So nah am Leben

So nah am Leben

Titel: So nah am Leben
Autoren: Inaqiawa
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heute auf dieser allerersten Etappe erwarten wird und ob und wie auf der langen Strecke überhaupt Einkehr und Verpflegung möglich sind.

    So sitzt sie nun wartend am Ufer des kleinen Flüßchens. Vereinzelte Lichter in den Häusern zeigen sich, das Dorf erwacht. Und dann bekommt sie ihren ersten Sonnenaufgang in den Pyrenäen geschenkt. Zuerst der volle Mond und jetzt dieser Sonnenaufgang. Ihr Herz ist randvoll und möchte platzen, so ergriffen ist sie. Das fängt wirklich gut an, denkt sie, dann kauft sie ihr Brot und sucht den Weg in die Berge.

    Sechsundzwanzig Kilometer und acht Stunden liegen laut Reiseführer vor ihr. Noch nie ist Samantha mit einem Rucksack zu Fuß durch die Natur gegangen.
    Das Wetter wird nach ein paar Kilometern zunehmend diesiger. Sie wandert im ärmellosen T-Shirt und spürt die morgendliche Feuchtigkeit auf ihrer Haut. Einige hundert Meter weiter und sie wird auch von innen heraus naß. Der Rucksack und die paar Kilo Gewicht, die sich in den vergangenen Monaten ohne ihre Erlaubnis auf ihr niedergelassen haben, bringen sie ganz schön ins Schwitzen. Diese Kilos, der Rucksack und alles, was sie sonst noch ausmacht, sie müssen es jetzt fünfunddreißig Tage und achthundert Kilometer lang miteinander aushalten. Vielleicht gefällt es den überschüssigen Kilos nicht besonders gut, und einige von ihnen werden sich unter diesen Umständen in den nächsten Tagen verabschieden. Ihr soll’s nur recht sein.

    Von Anfang an geht es ziemlich steil bergauf. Es gibt keine Eingewöhnungsphase für sie. Nach einer Stunde spürt sie ihr Herz imposant schlagen. Es ist, als hätte es seine Lage verändert und wolle unbedingt aus dem Hals heraus. In der zweiten Stunde beschleicht sie wieder das Gefühl, daß sie sich nicht gut genug vorbereitet hat. Die Muskeln ihrer Oberschenkel scheinen ein Eigenleben zu führen. Nicht nur, daß sie wie irre schmerzen, sie verweigern sich einfach. Sie hat das Gefühl, sie kann keinen einzigen Meter mehr gehen. Sie läuft seit zwei Stunden ununterbrochen steil bergauf.
    Es geht nur im Schneckentempo weiter, und sie wird ständig von anderen Pilgern überholt. Manche von ihnen haben dabei ein Tempo drauf, als gingen sie spazieren.
    Samantha muß alle paar hundert Meter eine Pause machen und hat noch nicht einmal ein Viertel der Strecke geschafft. Sie betrachtet den Weg vor sich, und die Sicht gibt ein erschreckendes Bild frei: keine Gelegenheit zum Anhalten oder Pause machen. Immer nur steil bergauf, soweit ihr Auge sehen kann. An manchen Stellen der Steigung hat sie das Gefühl, wenn sie jetzt stehenbliebe, dann würde sie vor Erschöpfung rückwärts den Berg hinunterfallen, und so setzt sie ganz langsam und mechanisch einen Fuß vor den anderen, ihren Oberkörper stark nach vorne geneigt. Ihre Schritte sind so klein, daß ihre Füße parallel nebeneinander stehen. Aber sie gibt nicht auf. Sie glaubt an sich und daran, daß die Entscheidung, den Jakobsweg zu gehen, richtig ist. Nein, sie weiß, daß sie richtig ist. Bei diesem Gedanken fällt ihr wieder der Zettel aus ihrem Stoffsäckchen ein: Glaube steht darauf.

    Ein schwieriges Thema für den ersten Wandertag, und doch genau das passende. Der Jakobsweg ist ein spirituelles Unternehmen und hat viel mit „Glauben“ zu tun.
    Sie denkt „Glauben“, und sofort kommt das Wort „Wissen“, als wären die beiden ein Zwillingspärchen. Gehört das für sie zusammen, und worin liegt der Unterschied? Was weiß sie und was glaubt sie? Sie spürt in sich hinein und erkennt einen Qualitätsunterschied. Glauben hat mit Vertrauen zu tun. Wissen mit Sicherheit. Übertragen auf ihre momentane Situation bedeutet dies, daß sie darauf vertraut, ihr Vorhaben zu schaffen und daß ihr Körper sich an die Anstrengung gewöhnen wird. Wissen kann sie es nicht. Also liegt der Glaube vor dem Wissen und ist gekoppelt an die Hoffnung. Natürlich hofft sie auch, daß sie schafft, was sie sich vorgenommen hat. Hat dieser Unterschied auch etwas mit Festigkeit zu tun und damit automatisch mit Zweifel? Wenn sie glaubt, kommen aus der Tiefe ihres Seins auch immer Zweifel hoch. Wenn die weg sind, dann weiß sie.
    Wie sieht es in ihr aus, wenn sie an die Schöpfung denkt? Glaubt sie daran oder weiß sie um sie? Der Gedanke ist einfach zu beantworten. Samantha weiß um sie. Gerade jetzt ist sie mittendrin. Die Pyrenäen, ihr wild schlagendes Herz, ihre schmerzenden Muskeln, daran muß sie nicht glauben, die erlebt sie.
    Wenn sie es also spüren,
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