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So nah am Leben

So nah am Leben

Titel: So nah am Leben
Autoren: Inaqiawa
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eine Biegung kommt, macht sie sich vor, daß es dahinter wieder bergab gehen wird. Das ist eine Illusion.

    Nach mehr als sechs Stunden hat sie fast tausendzweihundert Höhenmeter geschafft und kommt an die spanische Grenze. Am Grenzstein steht eine Traube von Pilgern, die rasten.
    Sie rastet nicht, sie geht immer weiter. Der Regen hat zugenommen und weicht den Weg auf. Er führt durch einen Wald. Am Boden sind tiefe Spuren eines Radladers zu sehen. Die mehr als dreißig Zentimeter tiefen Rillen sind mit Wasser vollgelaufen, und der Lehm hängt an ihren Schuhen. Links im Wald sieht sie andere Pilger, die versuchen, sich an den Bäumen entlang zu hangeln, um nicht im Matsch gehen zu müssen. Die Hänge sind derart steil und die Bäume so glatt, daß es beim Versuch bleibt.

    Sie geht wie mechanisch weiter, und der einzige Gedanke, der in ihr ist, sagt: „Wenn du es geschafft hast, dann wartet ein Zimmer mit eigener Dusche und weißen Laken auf dich.“ Diese Worte werden wie ein Mantra für sie, und dieser Satz treibt sie voran. Sie kann nur noch an die Dusche und die weißen Laken denken.
    Jetzt scheint es so, daß der Anstieg endlich geschafft ist. Sie läuft immer noch wie in Trance, aber sie merkt, daß die Schmerzen sich verändern. Während sie sie stundenlang in den Fersen spürte, verlagert sich ihr Gewicht jetzt nach vorn, wodurch die Fersen entlastet werden.

    Sie freut sich in doppelter Hinsicht: endlich der Abstieg und keine Pein mehr. Sogar der Regen läßt etwas nach.

    Ihr Wasservorrat ist nahezu verbraucht und ihr fällt auf, daß sie bis zu diesem Moment nicht in die „Büsche“ mußte. Wo sind die mehr als zwei Liter bis jetzt geblieben? Sechs Stunden lang! Ihr Flüssigkeitshaushalt hat sich verschoben. Der Wasserkreislauf hat sich verändert. Von der Flasche durch den Mund direkt aus den Poren wieder ins T-Shirt. Das war auf der einen Seite unglaublich praktisch, weil eine Seitwärtsbewegung in die Büsche bei diesem Regen und den nicht vorhandenen Büschen zu einem echten Problem geworden wäre. Auf der anderen Seite ging das Gewicht dieser Wassermenge folglich nicht verloren. Sie trägt es immer mit sich, erst in der Flasche, dann im T-Shirt.

    Sie läuft nun die achte Stunde und hat das Gefühl, nicht mehr wirklich zu existieren. Die Pyrenäen sind unerbittlich, und ihre Gedanken von einer Dusche und weißen Laken haben sich inzwischen in einen inneren, kindlich klingenden Schrei verwandelt: Sie will nach Hause, einfach nur nach Hause. Sie spürt seit Stunden die Kälte in ihren Muskeln, die Nässe in den Kleidern auf ihrer Haut. Es ist eine Mischung aus Schweiß und Regen. Zugehängt mit dem riesigen Regencape kommt sie sich vor wie ein Alien.

    Das ganze ist ein einziger Alptraum.

    Auch die Schmerzen in den Füßen setzen nun wieder ein, nur jetzt nicht mehr in den Fersen, sondern in den Zehenspitzen. Wie kam sie nur auf die Idee, daß es bergab leichter ginge? Ohne Wanderstab gibt es keine Entlastung für Hüften und Kniegelenke. Ihr ganzes Gewicht und die zwölf Kilo ihres neuen Freundes drücken jetzt nach vorn. Sie will das alles nicht mehr spüren. Sie möchte ins Koma fallen und vom Sanitäter ins Tal gebracht werden.
    Es ist kein Sanitäter in Sicht, und so läuft sie weiter. Mechanisch und ohne zu denken. Sie setzt einfach nur einen Fuß vor den anderen, so schnell und so gut es eben geht. Irgendwann wird sie schon ankommen, es gibt nur den einen Weg nach vorn, immer weiter, immer weiter.
    Die zehnte Stunde ist angebrochen. Es kann nicht mehr weit sein bis zur Dusche und zu den weißen Laken. Sie hat bereits seit längerer Zeit niemanden mehr gesehen.
    Viele Pilger sind bereits an ihr vorbeigezogen, von vielen hat sie mitleidige Blicke geerntet. Egal, egal, gleich ist sie da, und dann hat sie die erste und auch die schwierigste Etappe geschafft.

    Ihre Gefühle kehren zurück, als sie die ersten Häuser erblickt. Sie hat es geschafft. Jetzt wird alles gut. Sie sieht ein Hotel — ihre Rettung. Sie fragt nach einem Zimmer, und dann kommt die Antwort, mit der sie nicht im Traum gerechnet hätte: Wir sind ausgebucht. Dann geht sie eben in ein anderes Hotel und fragt dort!
    Es gibt kein anderes Hotel hier. Ihr wird schwindelig.
    Sie will jetzt aus den nassen Sachen unter eine Dusche. Keine Chance. Sie muß den Rucksack vom Rücken herunterbekommen, er klebt an ihr wie eine lästige Drohne. Gegenüber vom Hotel ist eine Bar.

    Ohne Regencape und Rucksack fühlt sie sich wieder wie ein
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