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So nah am Leben

So nah am Leben

Titel: So nah am Leben
Autoren: Inaqiawa
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wenn sie es erleben kann, ist es dann Wissen? Und wenn nicht, ist es dann Glaube?
    Sie braucht eine Erholungspause im Denken.

    Andererseits — intensives Denken macht den Weg leichter. Sie hat kaum bemerkt, daß sich die diesige Feuchtigkeit in Regen gewandelt hat. Die Zeit reicht gerade noch, um ihr Regencape über sich und den Rucksack zu werfen, bevor der Schauer richtig einsetzt. Sie schaut auf die Uhr und stellt fest, daß sie bereits eine weitere Stunde gelaufen ist.

    In Gedanken versunken hat sie gar nicht nach vorn geschaut, sondern mehr in sich hinein oder auf ihre Füße. Dadurch hat sie die Steigungen nicht so deutlich wahrgenommen. Ein toller Trick. Er erweist sich auch weiterhin als sehr tauglich, da offensichtlich die Psyche eine große Rolle spielt. Jedesmal wenn sie in ihrer Erschöpfung die noch vor ihr sichtbar liegende Strecke und ihren Steigungsgrad erforscht hatte, spürte sie ein inneres Stöhnen. Auf die Füße zu schauen, hat auch etwas Philosophisches: Der nächste Schritt befindet sich nicht in der Ferne, sondern direkt vor ihr.
    Der Regen wird stärker und bringt sie zurück in die Welt der Tatsachen. Sie überquert die Pyrenäen und hat keine fünfzig Meter Sicht. In ihr steigt Traurigkeit auf, in Anbetracht dessen, daß sie diese Strecke wohl kein zweites Mal in ihrem Leben gehen wird und es ihr so schwerfällt, die Gegenwart zu genießen. Im Vordergrund stehen die Schmerzen, die Strapazen und ihre Anstrengung. Sie will sich damit nicht zufriedengeben.

    Eine Herde Widder weidet neben ihr an den Hängen der Berge und blökt zufrieden vor sich hin. Der Widder ist ihr Sternbild. Sie nimmt das als ein Zeichen des Lebens und denkt sich, wenn die sich hier wohl fühlen, dann könnte sie es doch auch einfach mal probieren. Sie muß ja nicht blöken, aber sie könnte es mal mit einem Lied versuchen.
    Sie kramt in ihrem Kopf nach einer geeigneten Melodie oder einem Text. Das kann doch nicht sein, innen ist es wie tot, ihr fällt absolut nichts ein.
    Plötzlich steigt etwas ganz Paradoxes in ihr hoch: eine alte Melodie mit einem völlig unpassenden Text: „...ihr ist so fröhlich zumute, sie ahne und vermute, es liegt was in der Luft, ein ganz besonderer Duft, der liegt heut’ in der Luft...“.
    Sie sucht nach etwas anderem, aber es zeigt sich nichts. Sie weiß doch, daß sie unzählige Schlagertexte in ihrem Kopf gespeichert hat... Es zeigt sich einfach nichts. Alles, was kommt, ist: „...ihr ist so fröhlich zumute, sie ahne und vermute, es liegt was in der Luft, ein ganz besonderer Duft...“.

    Also gut, dann eben das. Sie singt so laut es ihre Pulsfrequenz zuläßt, und wiederholt die kurze Passage immer wieder. Dann auf einmal überkommt sie ein Lachen, erst verhalten, dann anschwellend — unangenehm anschwellend. Das Lachen hat etwas Unwirkliches, und sie dreht sich um, weil sie befürchtet, daß andere Pilger sie dabei beobachten könnten. Und dann verändert sich das Lachen und wird zu einem stillen Weinen. Die Tränen laufen ihr aus den Augen über die Wangen. Bei dem starken Regen ist das völlig unverdächtig, denkt sie. Dann setzt ihr Denken aus und sie fühlt nur noch. Sie fühlt die Schmerzen in ihrem Körper, die hochsteigende Traurigkeit und die Anstrengung, der sie sich ausgesetzt hat.

    Sie lehnt sich an den Hang, der Rucksack zerrt an ihr, bis sie in die Rückenlage fällt. Um sie herum die Widder, die sie neugierig beäugen. Dann läßt sie sich auch innerlich fallen und ruht einfach aus — ohne zu denken, sogar ohne zu fühlen — sie ist einfach nur da.

    Keine Ahnung, wie lange sie dort gelegen hat, irgendwann spürt sie wieder den Regen auf ihrem Gesicht. Sie erhebt sich, rückt ihren Rucksack zurecht, wischt sich den Schmutz vom Cape und geht weiter. Etwas hat sich verändert. Sie ist ruhiger geworden und die Anspannung hat sich gelegt, sogar die Schmerzen scheinen nicht mehr so intensiv. Sie geht einfach nur, ohne wirklich auf die Zeit zu achten.

    Es müssen mehr als zwei Stunden vergangen sein, da fängt es an zu hageln. Das Leben schenkt ihr das volle Programm.
    Wenn sie die Strapaze heute übersteht, hat sie die Feuertaufe bestanden, dann kann ihr nichts mehr passieren, denkt sie und geht weiter. Immer noch geht es nur bergauf. Sie läuft wie in der Meditation, ohne zu denken, einfach nur einen Fuß vor den anderen setzend, ohne nach vorn zu sehen. Den Anblick des Anstiegs kann sie schon lange nicht mehr ertragen. Er hört einfach nicht auf. Jedesmal wenn
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