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So nah am Leben

So nah am Leben

Titel: So nah am Leben
Autoren: Inaqiawa
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noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden her ist. Es kommt ihr vor, als wäre sie gestern auf einem anderen Stern gewandert.
    Heute ist alles so, wie sie es sich zu Hause vorgestellt hat. Sommerwetter in Spanien eben. Zwar fühlt sich ihr Körper immer noch etwas steif an, aber nach einer halben Stunde Marsch scheint sich alles wieder zu normalisieren. Die Muscheln und gelben Pfeile sind sehr praktisch. Sie braucht keine Karte, keinen Reiseführer. Sie läuft ihnen einfach immer hinterher.

    Jetzt merkt Samantha, daß sie wirklich ganz allein ist. Weit und breit ist kein Pilger zu sehen. Sie läuft durch die Natur und wird sich bewußt, daß sie heute noch kein einziges lautes Wort gesprochen hat. In einer kleinen Bar legt sie eine Pause ein und bestellt sich etwas zu trinken. Sie lehnt sich im Stuhl zurück und kann es immer noch nicht fassen. Sie befindet sich auf dem Pilgerweg, allein auf einem achthundert Kilometer langen Fußmarsch!
    Der Gedanke gefällt ihr, und warme Gefühle steigen in ihr auf. Diese warmen Gefühle sind auf sie gerichtet, nur auf sie, und sie ertappt sich dabei, daß sie sich toll findet. Ja, sie findet sich ganz schön mutig, und es geht ihr richtig gut mit sich selbst. Ein Glücksgefühl stellt sich ein.

    Da fällt ihr wieder ihr Ministoffsäckchen mit den vielen Begriffen ein. Für jeden Tag hat sie ein kleines Zettelchen geschrieben. Es sind fast vierzig Themen, über die sie in den nächsten Tagen nachdenken möchte und zu denen sie herausfinden will, was ihr auf diesem Weg das Leben dazu zu sagen hat.
    Mit spitzen Fingern langt sie in die kleine Öffnung des Säckchens, um das nächste Zettelchen zu ziehen. Und darauf steht: GLÜCK! Wow, war sie nicht gerade an dieser Stelle angelangt? Stieg nicht gerade eben ein Glücksgefühl in ihr hoch? Glück also!
    Wie soll sie sich am besten diesem Thema nähern?
    Sie möchte herausfinden, wie es sich ganz genau anfühlt, welche Voraussetzungen dafür gegeben sein müssen und na ja, der Rest wird sich finden. Sie zahlt ihre Rechnung und macht sich auf den Weg nach Pamplona. Sie müßte die Stadt in zwei oder vielleicht drei Stunden erreichen.

    Schon nach wenigen Metern kommt Samantha das Thema wieder in den Sinn. Wie fühlt sich Glück an?

    Ein warmes und sehr weiches Empfinden beginnt sich in ihrem Zentrum zu drehen. Sehr langsam und vorsichtig kreist es im Sonnengeflecht und steigt dann mit immer größer werdenden Kreisen nach oben hin auf. Dadurch daß die Kreise größer werden, versorgen sie durch ihren Umfang automatisch den gesamten unteren Bereich. Wenn sie die Herzregion erreicht haben, haben die Kreise solche Ausmaße angenommen, daß sie das Herz mit erfassen und den ganzen Rumpf durchströmen. Der Brustkorb weitet sich, die Atmung wird intensiver, und die Wärme durchflutet sie. Es entsteht ein Bild, als würde ein Stein in ruhiges Wasser geworfen, und man kann sehen, wie sich die Kreise ausbreiten.

    Die Welle stoppt nicht und erreicht ihr Gesicht. Erst wird der Mund mit einbezogen, er formt ein Lächeln. Dann erfaßt die Welle ihre Augen, und sie beginnen zu glänzen und zu strahlen. Die Wellen machen immer noch nicht halt, und sie hat das Gefühl, als gingen sie weit über ihre Körpergrenze hinaus, so daß auch andere Menschen sie spüren können. Sie verbinden sie mit allem um sie herum. Sie lassen sich von nichts bremsen, sie lassen keine Trennung zu. Im Gegenteil, sie verbinden, sie verbinden sie mit dem Rest des Universums.

    Glück ist für sie also eine sich ausbreitende Welle. Sie entsteht in ihr, und sie kann sie bis ins Unendliche wachsen lassen, bis sie sie am Ende wieder selber erreicht.

    Welche Gedanken begleiten dieses Geschehen? In diesen Momenten fühlt sich alles so richtig an. Alles stimmt. Es gibt keine unerfüllten Sehnsüchte oder Wünsche. Alles ist da — alles, was sie braucht, ist vorhanden — in ihrem Innern vorhanden. Ja, in diesen Momenten gibt es keinen Unterschied zwischen dem Innen und Außen. Ihr kommt es vor, als wäre alles eins: innen und außen, als könne sie gar nicht mehr dazwischen unterscheiden.

    Und dann stürmen die Paradoxa unseres Menschseins auf sie ein. Für einen Moment denkt Samantha, daß alles in guter Ordnung ist und sich nichts mehr ändern müsse, und fast im gleichen Moment kommt ihr der Gedanke: „Ja, und wenn sich etwas ändert, so ist es auch gleichgültig.“ Hier fällt ihr auf, daß sie dieses Wort in letzter Zeit häufiger benutzt: gleichgültig. Aber sie
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