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So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt
Autoren: Diana Menschig
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soll ich nur tun?« Sie versuchte, sein Gesicht zu erkennen, doch sein Geist blieb undeutlich.
    Dann war ihr, also ob ein feiner Windhauch durch den Raum huschte, sie liebkoste und ein hauchzarter Kuss ihre Wange streifte. Die Wand erwärmte sich und fühlte sich plötzlich weicher an. Noch einmal strich Merle darüber. Ihr war zum Weinen zumute, denn sie spürte, dass sie den nächsten Verlust erleiden sollte. Doch gleichzeitig erfüllten sie die Tatkraft und der unerschütterliche Optimismus, die Hans sein gesamtes Leben lang begleitet hatten.
    »Irgendwie werden wir das schon schaffen. Wie beide gemeinsam«, versprach sie in die Stille.
    Der Schaukelstuhl wippte in gleichmäßigem, beruhigendem Takt. Er war leer. Stattdessen lagen dort ein altes Märchenbuch und die drei Äpfel. Mit zögernden Schritten näherte Merle sich, nahm das Buch und die Äpfel und setzte sich in den Stuhl. Sie schlug
Hänsel und Gretel
auf und las es zweimal aufmerksam, obwohl sie es auswendig kannte: Gretel überlistet die Hexe, indem sie behauptet, sie passe nicht in den Ofen. Die Hexe will ihr beweisen, dass sie, die Größere, hineinpasse, und dann gibt Gretel ihr den entscheidenden Stoß.
    Hans wollte ihr sagen, dass sie etwas tun musste, was nur sie tun konnte. Aber was? Wie konnte sie das Wesen überlisten?
    Merle war endgültig am Ende ihrer Kräfte angelangt. Das Lesen in diesem dämmrigen Licht war anstrengend. Sie legte das Buch neben sich ab und rieb sich die brennenden Augen. Obwohl sie Hans nicht sehen konnte, spürte sie, dass er noch bei ihr war.
    »Hans, solltest du Papa begegnen: Sag ihm, dass ich ihn liebhabe und vermisse.«
    Die sanfte Schaukelbewegung lullte sie in den Schlaf. Bevor sie endgültig ins Reich der Träume hinüberglitt, spürte sie, dass jemand sie zudeckte. Irgendwo maunzte eine Katze.
    *
    Jakob erwachte erst, als es bereits hell war. Noch mit geschlossenen Augen tastete er hinüber zu Merle. Ein Teil von ihm fragte sich, ob der gestrige Tag nur ein wilder Traum gewesen war. Der andere wusste, dass es Wirklichkeit gewesen war. Wie auch immer, die Frau in seinem Bett musste einfach Wirklichkeit sein. Auf Merle wollte er um keinen Preis verzichten. Seine tastende Hand fand nur das einsame Kopfkissen. Jakob riss die Augen auf und blickte auf die leere Betthälfte. Mit einem Satz war er aus dem Bett und lief zur Tür.
    »Merle?«
    Keine Antwort. Stattdessen glaubte er ein Poltern vor dem Haus zu vernehmen. Er lief zurück ins Zimmer, um aus dem Fenster zu schauen, und erstarrte. »Bitte sag mir jemand, dass das nicht wahr ist!«, stöhnte er leise. Auf der Lichtung lag Merle. Reglos und mit verzerrten Gliedern. Sie trug die Kleidung vom Vortag. In der einen Hand glaubte er eine Taschenlampe zu erkennen. Was hatte sie getan?
    Er musste zu ihr. Ohne zu überlegen, stürmte er die Treppe hinunter. Das durfte nicht sein! Was immer sich für Gedanken aufdrängten, er ließ sie nicht zu. Seine Merle lag dort draußen im Gras und brauchte Hilfe. Er würde ihr helfen. Er hatte es versprochen. Und wenn es das Letzte war, was er im Leben tun würde.
    *
    Jemand rief ihren Namen. Merle schlug die Augen auf und brauchte einen Augenblick, um sich zu orientieren. Sie warf die Wolldecke zurück, sprang aus dem Schaukelstuhl auf und rannte zum Fenster. Hinter ihr rollten die Äpfel, die in ihrem Schoß gelegen hatten, über den Boden. Zeitgleich stürmte jemand die Treppe hinunter.
    »Jakob? Was machst du?«, rief sie in Richtung der Tür, doch er hörte sie nicht. Noch immer halb schlafend hielt sie inne. Sie begriff überhaupt nicht, was da vorging.
    Sie sah aus dem Fenster, und dann war sie mit einem Mal hellwach. Dort draußen war Jakob! Er lief zu den Knochen, beugte sich zu ihnen hinab. Was tat er da?
    »Nein! Jakob!«, rief sie entsetzt und trommelte gegen die Scheibe.
    Jakob reagierte immer noch nicht. Er hielt den Kopf gesenkt, und seine Schultern bebten. Merle verstand gar nichts mehr.
    Und es kam schlimmer.
    Jakob kniete sich hin und hob die Knochen vorsichtig auf. Seltsamerweise fielen sie nicht auseinander, sondern blieben wie von unsichtbaren Fäden verbunden an einem Stück. Das war für Merle Beweis genug, dass Greta noch am Leben war. Jakob taumelte mit dem Knochenbündel im Arm auf die Tür zu. Er sah aus, als ob ihn eine unsichtbare Last niederdrückte. Das Torffeuer in seinen Augen war erloschen.
    Im Bruchteil eines Lidschlages erkannte Merle, was Jakob sehen musste und in welcher Gefahr er sich jetzt
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