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So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt
Autoren: Diana Menschig
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Welches Recht hatte sie, von Hans Unterstützung zu verlangen?
    »Ich habe dich im Stich gelassen«, murmelte sie beschämt. »Dich und Omi. Irgendwann habe ich nicht mehr zugehört.«
    Haus im Wald – Steinberg, Sommer 1981
    Hans hatte gewusst, dass es so kommen würde. Es war bisher immer so gekommen. Er hockte sich auf die Bank neben der Haustür und zog die Knie bis an die Nase. Mago warf ihm einen verstohlenen Blick zu, schuldbewusst und entschuldigend zugleich. Hans sorgte dafür, dass sie ihn als kleinen Jungen sah, der ihr aufmunternd zulächelte. Sie sollte sich keine Vorwürfe machen, weil sie einen Menschenfreund für Merle ins Haus gelassen hatte. Sie waren sich darüber einig, dass es besser so war: Merle sollte sich den Lebenden, der Zukunft zuwenden und nicht in Vergangenem verharren. Björn hatte ein gutes Herz, alles andere hätte das Haus niemals zugelassen.
    Und doch … irgendetwas war dieses Mal anders. Es fiel Hans viel schwerer als sonst, die nächste Generation ziehen zu lassen. Er konnte sich selbst nicht erklären, warum er Merle besonders liebgewonnen hatte. Vielleicht, weil Theodor sich früher als üblich von ihm abgewendet hatte, dem Haus und seinem Leben regelrecht entflohen war. Vielleicht, weil Merles Mutter, obwohl sie nicht blutsverwandt war, dafür eine umso engere Bindung zu ihm aufgebaut hatte, Kraft aus seiner Anwesenheit geschöpft hatte, um das Los ihrer Krankheit zu ertragen.
    Ganz sicher lag es an Merle selbst. Sie war frecher und ungebärdiger, wie die Mädchen in dieser Familie es meistens waren. Doch sie hatte ein großes Herz. Und sie liebte dieses Häuschen mehr als jeder ihrer Vorfahren.
    Hans ließ seinen Blick über das Gebäude schweifen und wandte sich wieder den beiden Kindern zu, dem Jungen und dem Mädchen, die mit selbstgebastelten Bögen durch das Gras huschten, auf imaginäre Feinde schossen und sich dabei wild und mächtig vorkamen. Dabei dachte er daran, wie Merle es einmal geschafft hatte, ihn auszutricksen. Wie er im Spiel die Augen geschlossen hatte und sie ihm diesen kurzen schnellen Kuss auf die Lippen gedrückt hatte. Er hätte so etwas erwarten müssen, doch er hatte geglaubt, sie wäre noch viel zu jung für solch ein Täuschungsmanöver.
    Es war die einzige Berührung, die er in den Hunderten von Jahren zugelassen hatte, wenn auch unfreiwillig.
    So etwas verband.
    Trotzdem – oder gerade deshalb – musste er sie gehen lassen. Weil sie ein Menschenkind war, voller Leben, voller Zukunft. Und er? War er auf ewig an diese Existenz gebunden, die ihm keinen Seelenfrieden gewährte? Vor vielen Jahrhunderten hatte er geglaubt, er wäre frei, wenn sein irdisches Dasein endete. Zugleich hatte er schon damals geahnt, dass sein Schicksal auf ewig mit dem Gretas verbunden bleiben würde. Erst wenn sie vernichtet sein würde, konnte er jenen Weg beschreiten, der ihn zu seiner Familie führen würde, nach der er sich so sehr sehnte.
    In ganz schwachen Momenten hatte er darüber nachgedacht, Greta zu befreien. Doch selbst wenn ihm das gelingen könnte, war die Sorge um das Wohlergehen seiner Nachfahren stets größer gewesen und hatte ihn von solch einer Dummheit abgehalten. Auf ein paar Jahrhunderte mehr oder weniger kam es nicht mehr an.
    Ein Holzpfeil landete vor ihm im Gras. Er schaute auf. Merle kam auf ihn zugerannt, bückte sich nach dem Pfeil und stutzte, als sie sich wieder aufrichtete. Sie drehte sich stirnrunzelnd um, schaute auf Björn, der unter den Apfelbäumen auf sie wartete, und wandte sich dann wieder der Bank zu. Verwirrt kratzte sie sich den Kopf.
    Hans wusste, dass dies das letzte Mal gewesen war, dass sie ihn gesehen hatte.
    »Lebe wohl«, flüsterte er in den Wind.
    Für einen Moment legte das Mädchen den Kopf in den Nacken und starrte in den wolkenlosen Himmel. Ihre Lippen formten ein paar fast lautlose Worte. Vielleicht glaubte es, dass es zu seiner Mutter sprach, doch Hans hoffte, dass dieses Versprechen wahr werden würde: »Ich werde dich nie vergessen.«

Zweiundzwanzig
    Das Knusperhäuschen
    H ans, es tut mir leid. Ich wollte dich nie vergessen. Glaubst du mir das? Du bist wie ein Bruder für mich gewesen. Ich danke dir!« Merles Stimme zitterte leicht. Sie spürte Hans’ ermutigendes Lächeln mehr, als sie es sehen konnte. In dem Augenblick wusste sie, dass er ihr verziehen hatte. Sie strich mit der flachen Hand über die kühle Wand. Hans war ein Teil des Hauses. Er würde verstehen, dass diese Berührung ihm galt.
    »Was
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