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Sklaven der Begierde

Sklaven der Begierde

Titel: Sklaven der Begierde
Autoren: Tiffany Reisz
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sterben lassen sollen.
    Er warf sich seine Reistasche über die Schulter, hob den schon arg mitgenommenen braunen Lederkoffer hoch und marschierte über den menschenleeren Campus auf ein Gemäuer zu, das er für das Hauptgebäude hielt. Wohin auch immer er schaute, sah er Kirchen oder zumindest kirchenartige Gebäude. Jedes Dach war von einem Kreuz gekrönt, vor jedem Fenster prangte ein gotisches Eisengitter. Man hatte ihn – ohne ein Wort der Entschuldigung – der Zivilisation entrissen und mitten im feuchten Traum eines mittelalterlichen Mönchs abgesetzt.
    Er betrat das Gebäude durch eine schwere eisenbeschlagene Holztür, deren uralte Angeln aufschrien, als würden sie gefoltert. Er konnte das nachfühlen. Ihm war selbst nach Schreien zumute. Ein flackernder Kamin, in dem sich die Holzscheite stapelten, brachte etwas Licht und Wärme in die trostlose graue Eingangshalle. Er kauerte sich davor und schlang die Arme um seinen Oberkörper, eine Bewegung, die ihn leicht zusammenzucken ließ. Sein linkes Handgelenk tat immer noch weh. Er war vor drei Wochen zusammengeschlagen worden. Aufgrund dieser Prügelei waren seine Großeltern davon überzeugt, dass er nur in einer reinen Jungenschule seines Lebens sicher wäre.
    Hinter ihm erklang eine joviale Stimme. „Ah, das ist also unser Franzose?“
    Er drehte sich um. Ein rundlicher, ganz in Schwarz gekleideter Mann kam auf ihn zu und strahlte von einem Ohr zum anderen. Nein, er war gar nicht komplett in Schwarz, korrigierte er sich. Um den Hals trug der Mann einen weißen Kragen, ein Kollar . Der Priester streckte ihm die Hand entgegen, aber er zögerte, bevor er sie ergriff. Keuschheit kam ihm wie eine Krankheit vor, und er wollte sich nicht anstecken. „Herzlich willkommen in St. Ignatius. Kommen Sie mit in mein Büro. Hier geht’s lang.“
    Er sah den Priester mit leerem Blick an, folgte aber der Aufforderung.
    Im Büro setzte er sich auf den Stuhl, der dem Kamin am nächsten war. Der Priester nahm hinter einem großen Eichentisch Platz.
    „Ich bin übrigens Father Henry“, stellte er sich vor. „Der Monsignore hier. Ich habe gehört, dass Sie an Ihrer alten Schule ein paar Probleme hatten. Irgendwas über eine Prügelei … Ein paar Mitschülern hat nicht gefallen, wie Sie sich ihren Freundinnen gegenüber verhalten haben?“
    Statt einer Antwort zuckte er nur mit den Schultern.
    „Großer Gott. Man hat mir gesagt, dass Sie ein bisschen Englisch können.“ Father Henry seufzte. „Ich nehme an, mit „ein bisschen“ meinten sie „gar nicht“. Anglais?“
    Er schüttelte den Kopf. „Je ne parle pas l’anglais.“
    Father Henry seufzte noch einmal.
    „Franzose. Natürlich. Warum müssen Sie ausgerechnet ein Franzose sein? Kein Italiener. Kein Deutscher. Ich könnte sogar mit ein bisschen Altgriechisch dienen. Aber nein, es muss Französisch sein. Und der arme Father Pierre ist vor sechs Monaten gestorben. Ach, was soll’s, c’est la vie.“ Er musste über seinen eigenen Scherz lachen. „Macht nichts“, fuhr er dann fort. „Wir kriegen das schon hin.“ Father Henry stützte sich mit seinem Doppelkinn auf seine Hand und starrte, offensichtlich tief in Gedanken versunken, in die Flammen.
    Er folgte dem Beispiel des Priesters. Langsam sickerte die Wärme des Kaminfeuers durch seine Kleidung und seine kalte Haut in seinen Körper. Er wollte nur noch schlafen, tagelang, am liebsten sogar jahrelang. Vielleicht würde er dann als erwachsener Mann aufwachen, und niemand könnte ihn je wieder irgendwohin schicken. Der Tag würde kommen, an dem er keine Befehle mehr befolgen würde, von keinem. Und dieser Tag würde der beste seines Lebens sein. Wenn er nur schon da wäre!
    Ein leises Klopfen riss ihn aus seinen Träumen.
    Ein Junge öffnete die Tür, blieb dann stehen und wartete. Er war etwa zwölf Jahre alt, hatte rotes Haar und trug die Schuluniform: schwarze Hose, schwarze Weste, schwarzes Jackett, schwarzer Schlips und blütenweißes Hemd.
    Sein ganzes Leben lang war er stolz auf sein Erscheinungsbild gewesen, seine Kleidung war sorgfältig zusammengestellt, jedes Detail stimmte, bis hin zu den Schuhen. Doch jetzt würde man ihn zwingen, dieselben langweiligen Sachen zu tragen wie jeder andere Junge hier an diesem erbärmlichen Ort. In seinem letzten Jahr am Lycée in Paris hatte er ein bisschen Dante gelesen. Und wenn er sich richtig erinnerte, dann bestand der innerste Höllenkreis aus Eis. Er sah aus dem Fenster von Father Henrys Büro. Es
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