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Sklaven der Begierde

Sklaven der Begierde

Titel: Sklaven der Begierde
Autoren: Tiffany Reisz
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ein ungewöhnlich großes Sandwich beschrieb.
    Ein paar der Sessel waren besetzt, und die anwesenden Schüler musterten Kingsley mit unverhohlener Neugier. Sein Großvater hatte ihm erzählt, dass St. Ignatius nur vierzig bis fünfzig Schüler hatte. Einige von ihnen kamen aus reichen katholischen Familien, die eine traditionelle jesuitische Erziehung für ihren Nachwuchs wünschten. Die anderen waren junge Männer, die schon mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Sie waren auf Anordnung des Richters hier, um in der Obhut der Priester zu gesetzestreuen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen zu werden. Da alle die gleiche Schuluniform und die gleichen zottigen Frisuren trugen, konnte Kingsley die Söhne aus gutem Hause nicht von den Problemfällen unterscheiden.
    Matthew führte ihn aus der Bibliothek heraus. Das nächste Gebäude auf seiner Liste war die Kapelle. Er zögerte kurz, bevor er zum Türknauf griff, und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Dann öffnete er die Tür so vorsichtig, als wäre sie aus Glas, und schlüpfte hindurch. Kingsley spitzte die Ohren, als er die Pianoklänge vernahm. Wer immer da spielte, war zweifellos ein Virtuose.
    Matthew schlich auf Zehenspitzen in die Kapelle und näherte sich nahezu lautlos der Tür zum Altarraum. Kingsley folgte ihm entschieden weniger ehrfürchtig und spähte hinein.
    Am Klavier saß ein junger Mann … sehr schlank, fast schon hager, hellblond. Sein Haarschnitt war sehr viel konservativer als Kingsleys eigene schulterlange Mähne.
    Kingsley sah zu, wie die Hände des blonden Pianisten über die Tasten tanzten und dem Instrument dabei die wunderbarsten Töne entlockten, die er je gehört hatte.
    „Ravel …“, flüsterte er. Ravel, der größte aller französischen Komponisten.
    Matthew schaute ihn erschrocken an und forderte ihn erneut mit einer unmissverständlichen Geste zum Schweigen auf. Kingsley konnte nur verächtlich den Kopf schütteln. Was war sein Begleiter doch für ein elender kleiner Feigling. Dabei verbot Feigheit sich doch von selbst bei dieser Musik.
    Ravel war der Lieblingskomponist seines Vaters gewesen, und er war auch zu Kingsleys Lieblingskomponisten geworden. Er hatte die Leidenschaft, die Sehnsucht, das Verlangen in jeder Note gehört, sogar durch die Kratzer auf den Vinylplatten seines Vaters hindurch. Ein Teil von ihm wollte jetzt nichts anderes, als die Augen zu schließen und die zauberhaften Klänge zu genießen.
    Doch ein anderer Teil von ihm konnte sich einfach nicht vom Anblick des jungen Mannes am Klavier losreißen, der das Stück spielte – Ravels Klavierkonzert in G-Dur. Er hatte es sofort erkannt. Wenn es in kompletter Instrumentation aufgeführt wurde, begann es mit einem Peitschenknall.
    Aber er hatte es noch nie so intensiv wahrgenommen wie in diesem Moment. So intim, so nah. Als müsste er nur die Hand ausstrecken, um die Noten aus der Luft zu fangen, sie in den Mund stecken und hinunterschlucken. So schön … die Musik und der junge Mann, der sie spielte. Kingsley lauschte den Klängen und betrachtete den Pianisten. Er konnte nicht sagen, was ihn mehr berührte.
    Der Pianist war ohne jede Frage der attraktivste junge Mann, den Kingsley in seinen sechzehn Lebensjahren gesehen hatte. So eitel er auch war, er musste doch anerkennen, dass hier tatsächlich jemand saß, der mindestens genauso gut aussah wie er selbst. Dabei war der Pianist nicht einfach nur extrem attraktiv, er war in gewisser Weise so schön wie die Musik, die er spielte. Er trug zwar die Schuluniform – das Jackett hatte er abgelegt, wohl, um die Arme freier bewegen zu können –, aber er glich den anderen Jungs nicht im Geringsten. Er kam Kingsley vor wie eine Statue, die ein Zauberer zum Leben erweckt hatte. Seine blasse Haut war glatt und makellos, seine Nase elegant geschwungen, sein Gesicht blieb vollkommen ruhig, während er dem schwarzen Kasten vor ihm die prächtigsten, herrlichsten Töne entrang.
    Wenn nur … wenn nur Kingsleys Vater hier wäre, um diese Musik zu hören. Wenn nur seine Schwester, Marie-Laure, hier wäre, um dazu zu tanzen. Für einen kurzen Moment gestattete Kingsley es sich, um seinen Vater zu trauern und seine Schwester zu vermissen. Doch die Musik dämpfte den Schmerz, und Kingsley merkte, dass er lächelte.
    Das hatte er dem jungen Mann, dem schönen blonden Pianisten, zu verdanken. Der ihm diese Musik geschenkt hatte und damit die Möglichkeit, einmal an seinen Vater zu denken, ohne vom Schmerz überwältigt zu
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