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Sir Darrens Begräbnis - Magie - Engel, Gift, Diebe

Sir Darrens Begräbnis - Magie - Engel, Gift, Diebe

Titel: Sir Darrens Begräbnis - Magie - Engel, Gift, Diebe
Autoren: Martin Clauß
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begann sie wieder zu keimen.
    Eine weißhaarige alte Ratte wie Cassel, die einem Mann eine geladene Pistole gegen die Schläfe drückte, so fest, als wolle sie mit dem Lauf in seiner Hirnmasse rühren, neigte nicht zu plötzlichen Anfällen von Menschlichkeit. So ein Mann würde liegen lassen, was erst einmal begraben war. Und was die fromme Vorstellung anging, Darren könnte sich selbst befreien – er wusste nicht, wie tief sein Grab war, aber er hatte gehört, wie sie die Erde oben festgetrampelt hatten. Und was viel schlimmer war: Der Sarg, kaum mehr als ein ungeschickter Witz von einer Kiste, hatte dem Gewicht der Erde nicht viel entgegenzusetzen. Der Deckel beulte sich nach innen aus und drückte ihm auf Brust und Magen. Das Gewicht schien von Minute zu Minute größer zu werden. Irgendwo vor seinem Gesicht ragten ein paar krumme Nägel heraus. Er hatte sie nicht gesehen, nur ertastet. Mit seiner Gesichtshaut. Darren hielt den Kopf zur Seite gedreht, um den brennenden Schrammen keine neuen hinzuzufügen.
    Die Pockenpusteln auf seiner Haut waren nicht echt. Aus kleingeschnittenen, in Ruß getauchten Kartoffeln hatte man sie gefertigt. In der fortgeschrittenen Dämmerung konnte man sie von echten Pockenzeichen nicht unterscheiden, vor allem wenn man stark kurzsichtig war, und das traf auf den Medizinmann offenbar zu. Allen war aufgefallen, wie er ständig seine Augen zusammenkniff. Darren hatte die Krankheit nicht, aber der Medizinmann sollte glauben, dass er sie hatte. Es war wichtig für den Frieden mit den Indianern.
    Hol mich raus , betete Darren, jetzt sofort! Die Indianer müssen längst abgezogen sein. Menschen, die nicht an Gott oder Götter beteten, beteten in ihren letzten Momenten an Menschen. Oder an Wesen, die sich für Menschen hielten.
    So endete es also. In einem Erdloch im Herbst des Jahres 1948, mitten in Kalifornien. In einem Grab ohne Namen.

4
    Wie hatte er annehmen können, er würde rund zweihundert Jahre Vergangenheit einfach so aussitzen? Das Nordamerika des 19. Jahrhunderts war kein warmer Ohrensessel, in dem man sich mit einer Tasse heißem Tee räkeln konnte, die Füße in Filzpantoffeln. Die ersten Jahrzehnte hatte er sich erstaunlich wacker geschlagen. Er hatte einige lukrative Stellungen als Privatlehrer in betuchten Haushalten an der Ostküste angenommen, hatte verzogenen kleinen Mädchen Geografie, Geschichte und das beigebracht, was man hier für englische Sprache hielt, hatte tagsüber die Zähne zusammengebissen und nachts aus Unruhe und Frustration damit geknirscht. Ehe jemandem auffallen konnte, dass er nicht alterte, hatte er stets den Ort gewechselt, war die East Coast hinauf und hinunter gereist, ein ruheloses Gespenst in einem Land und einer Zeit, die nicht die seinen wurden, wie lange er sich dort auch aufhielt. Es war merkwürdig, aber tatsächlich fühlte er sich auch nach genau fünfzig Jahren noch nicht heimisch in dieser Welt. Wer das 20. und 21. Jahrhundert erlebt hatte, konnte nicht umhin, diese vergangene Welt als unfertig und provisorisch zu empfinden, als Übergangslösung. Die Menschen, die seinen Weg kreuzten, waren lebendig und besaßen Tiefe, doch die Häuser und Straßen wirkten wie Kulissen in einem Theaterstück.
    Glücklicherweise war es keine Zeit großer Kriege. Der Unabhängigkeitskrieg war längst beendet, als er durch den seltsamen Geisterfluch, dessen Architekt er letztlich selbst gewesen war, im New York des Jahres 1798 eintraf, und der nächste große Konflikt, der amerikanische Bürgerkrieg, lag noch in der Zukunft. Den Kämpfen im Krieg von 1812 und im mexikanischen Krieg wich er geschickt aus. Vielleicht war er der erste Mensch, bei dem sich gutes Geschichtswissen so unmittelbar auszahlte.
    Als das Jahr 1848 näher rückte, verschlechterte sich seine finanzielle Situation, und er wurde an der Ostküste wegen einiger Missverständnisse sogar polizeilich gesucht. Was sollte er tun? Endlich nach Europa zurückkehren? Oder doch weiter in der Neuen Welt sein Glück versuchen?
    Wenn er sich recht erinnerte, dann würde man Anfang 1848 im weit entfernten Kalifornien Gold finden – der Fund würde den Startschuss für den ersten großen Goldrausch geben. Allerdings würde es Monate dauern, bis die Information an die Ostküste gelangte. Und nahezu ein Jahr würde vergehen, ehe große Menschenmengen die Westküste erreichten und hunderttausende Goldsucher das Land überschwemmten.
    Natürlich war Sir Darren Edgar nicht zum Digger geboren. Das wusste
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