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Silenus: Thriller (German Edition)

Silenus: Thriller (German Edition)

Titel: Silenus: Thriller (German Edition)
Autoren: Robert Jackson Bennett
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bereits vernommen und war vermutlich gerade dabei, eine hübsche Schimpftirade zu komponieren, doch wenn George jetzt einfach verschwand, würde er den Lohn für eine ganze Woche verlieren. Und da er die Konsequenzen dessen, was er zu tun im Begriff war, nicht überblicken konnte, hielt er es für klüger, jeden Penny mitzunehmen, den er bekommen konnte.
    Als George den Büroflur erreicht hatte, saß da bereits jemand auf einem der Stühle, die aufgereiht vor Van Hoevers Tür standen: eine kleine, ältere Frau, die ihm wachsamen Auges entgegenblickte, so, als hätte sie ihn erwartet. Ihre Unterarme und Hände waren wegen ihrer Arthritis fest mit Leinen umwickelt, und zwischen zwei ihrer Finger schwitzte eine unbeholfen gedrehte Zigarette frischen Rauch. »Du willst gehen, ohne Auf Wiedersehen zu sagen?«, fragte sie ihn.
    George lächelte ein wenig. »Ah«, sagte er. »Hallo, Irina.«
    Die alte Frau antwortete nicht, sondern klopfte auf den freien Stuhl neben sich. George trat näher, nahm aber nicht Platz. Die alte Frau zog die Brauen hoch. »Bist du dir zu fein, um mir Gesellschaft zu leisten?«
    »Das ist ein Hinterhalt, richtig?«, fragte er. »Sie haben auf mich gewartet.«
    »Du bildest dir wohl ein, die ganze Welt wartet nur auf dich. Komm, setz dich.«
    »Ich leiste Ihnen Gesellschaft«, sagte er, »aber ich werde mich nicht setzen. Ich weiß, dass Sie vorhaben, mich aufzuhalten.«
    »Wozu die Ungeduld, Kind? Ich bin nur eine alte Frau, die sich mit dir unterhalten möchte.«
    »Um darüber zu diskutieren, warum ich gehe.«
    »Nein. Um dir einen Rat zu geben.«
    »Ich brauche keinen Rat. Und ich werde meine Meinung nicht ändern.«
    »Das erwarte ich auch nicht. Ich möchte dir nur einen Vorschlag machen, ehe du gehst.«
    George bedachte sie mit einem ungeduldigen Blick, wie ihn nur sehr junge Menschen für sehr alte aufzubieten haben, und hob die Faust, um an Van Hoevers Tür zu pochen. Doch noch ehe seine Knöchel auf das Holz prallen konnten, hatte die mit Stoff umwickelte Hand der alten Frau seine Faust in der Luft abgefangen. »Du wirst hören wollen, was ich zu sagen habe, George«, sagte sie. »Denn ich weiß genau , warum du gehst.«
    George musterte sie. An niemand anderen hätte er eine weitere Minute vergeudet, aber Irina war eine der wenigen Personen bei Otterman’s, die ihm stets Aufmerksamkeit abverlangten. Sie war die einzige Bratschistin des Orchesters und hatte wie die meisten Bratscher (die ihr Leben immerhin einem weitgehend ignorierten und vielfach bespöttelten Instrument widmeten) eine recht sauertöpfische Lebensweisheit erlangt. Außerdem kursierten Gerüchte, denen zufolge sie in ihrer Heimat Russland schreckliche Not gelitten hatte, ehe sie nach Amerika geflohen war, was ihr, gepaart mit ihrem hohen Alter, im Otterman’s eine rätselhafte Hochachtung beschert hatte.
    »Meinen Sie?«, fragte George.
    »Allerdings«, sagte sie. »Und, willst du nicht hören, was ich denke?« Sie ließ ihn los und klopfte erneut auf den Stuhl neben sich. George seufzte, nahm aber, wenn auch zögerlich, Platz.
    »Was denken Sie?«
    »Warum hast du es so eilig, Kind?«, fragte Irina. »Es scheint, als wärst du gestern erst angekommen.«
    »Das war nicht gestern«, sagte George. »Ich bin schon über ein halbes Jahr hier, viel zu lang.«
    »Zu lang wofür?«
    George antwortete nicht. Irina lächelte, amüsierte sich über diesen schrecklich ernsten Jungen in seinem zu weiten Anzug. »Die Zeit vergeht so viel langsamer in der Jugend. Für mich ist es, als wäre nur ein Tag vergangen. Ich weiß immer noch, wie du durch diese Tür gekommen bist. Drei Dinge sind mir damals an dir aufgefallen.« Sie reckte drei spindeldürre Finger hoch. »Das erste war, dass du talentiert bist. Sehr talentiert. Aber das wusstest du, nicht wahr? Das wusstest du wahrscheinlich viel zu gut für so einen kleinen Jungen.«
    »Einen kleinen Jungen ?«, wiederholte George.
    »Oh ja. Ein naives kleines Lämmchen sogar.«
    »Damals vielleicht«, gab George hochnäsig zurück, griff in seine Tasche, zog einen Beutel Tabak hervor und fing an, sich eine Zigarette zu drehen. Dabei achtete er darauf, sich so lässig wie nur möglich zu geben. Immerhin hatte er den Ablauf zu Hause vor dem Spiegel geübt.
    »Wenn du meinst«, sagte Irina und zog einen der drei Finger ein. Die beiden anderen reckte sie weiter hoch. »Zweitens warst du stolz und unbesonnen. Das hat mich nicht überrascht. Das habe ich schon bei vielen jungen Künstlern
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