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Silenus: Thriller (German Edition)

Silenus: Thriller (German Edition)

Titel: Silenus: Thriller (German Edition)
Autoren: Robert Jackson Bennett
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zur Flucht gezwungen hatte. So fesselnd diese Geschichte auch war, viele mussten eingestehen, dass sie sich dergleichen nicht vorstellen konnten; Mr Carole wirkte friedvoller und ruhiger als je zuvor. Meist saß er auf seiner vorderen Veranda und starrte zum Himmel empor, und manchmal lachte er ohne irgendeinen ersichtlichen Grund. Es war, da waren sich alle einig, als sähe er etwas in den Wolken oder den Feldern oder den Ästen im Wald, das außer ihm niemand sehen konnte. Vielleicht, sagten die Leute, war er verrückt geworden und deswegen nach Hause zurückgekehrt. Doch wenn er sie mit diesen außergewöhnlichen fahlgrauen Augen musterte, sahen sie auch diese Theorie widerlegt. Dies war kein Wahnsinniger; viel eher schien er geradezu fürchterlich gescheit zu sein.
    Der neue Carole-Haushalt wurde schnell zu einem der sonderbarsten und verrufensten in der gesamten Geschichte Rintons. Ganze Klatschbasenkarrieren hingen vollständig davon ab, wer die aktuellsten Neuigkeiten über Mr Carole und seine spätere Gemahlin, die ebenfalls höchst eigenartig war, zu verbreiten wusste. Offenbar war sie viel auf Reisen – bisweilen war sie die Hälfte des Jahres unterwegs –, und obwohl Mr Carole nie verriet, was sie tat, nahmen alle an, dass sie im Agrarsektor arbeitete, nachdem man ihn einmal hatte sagen hören, sie wäre fort, um den Feldern im Westen zu helfen. Außerdem war Mr Caroles Garten auffallend ertragreich und schien stets die perfekte Menge an Schatten und Regen zu bekommen. Sein Obst und Gemüse wurde beim jährlichen Volksfest regelmäßig ausgezeichnet, zur Missgunst und Bestürzung beinahe sämtlicher Repräsentationsfiguren der Stadt.
    Nur ein einziges Mal sprach jemand George Carole gegenüber das Thema seiner Vergangenheit an. Edwin Crouts ging eines Tages, als Mr Carole auf seiner Veranda saß, auf ihn zu und fragte ihn, ob er vielleicht als Kirchenpianist einspringen könne, da der derzeitige Pianist unter grauem Star litte und die Noten nicht mehr lesen könne. Mr Carole antwortete zunächst nicht; er lächelte nur und musterte Edwin aus diesen merkwürdigen grauen Augen. Edwin raffte alle Courage, die ihm noch geblieben war, zusammen, und fragte Mr Carole, ob es wahr sei, dass er zu seiner Zeit ein Vaudevillekünstler gewesen wäre, und falls es wahr sei, ob ihn das nicht uneingeschränkt qualifizieren würde, in der Kirche zu spielen. Die Musik in der Kirche sei ganz unkompliziert, versicherte er ihm, eine Musik, die jeder, der die Theater bereist hatte, spielen könne. Hatte er je Kirchenmusik gespielt? Spielte er überhaupt noch? All das fragte Edwin, bemüht, unter dem kühlen, distanzierten Blick nicht ins Schwitzen zu geraten.
    Mr Carole hörte seinem Wortschwall aufmerksam zu, dachte nach und sagte dann schlicht: »Nein.«
    Edwin, zutiefst eingeschüchtert, fragte, zu welcher seiner Bemerkungen er Nein sagte: Sagte er Nein zu der Bitte, als Kirchenmusiker einzuspringen, Nein zu den Gerüchten, denen zufolge er beim Vaudeville war oder Nein zu der Frage, ob er überhaupt noch spiele?
    Aber Mr Carole lächelte nur, schüttelte den Kopf und sagte erneut: »Nein.« Edwin, nun rot angelaufen und gedemütigt, murmelte eine Entschuldigung und hastete eilig davon.
    Jeder versuchte nun zu begreifen, was Mr Carole genau gemeint haben mochte. Wozu hatte er Nein gesagt, vorausgesetzt, er hatte nicht schlicht zu allem Nein gesagt? Sie wussten es nicht. Aber eines stand fest: George Carole, der in seiner Jugend so häufig Piano gespielt hatte, hörte man nie wieder ein Piano anrühren. Vielleicht, meinte jemand, war er einfach erschöpft.
    Einige konnten sich für diese Idee erwärmen. Dieser Mr Carole hatte etwas Wehmütiges an sich, etwas Trauriges, auch wenn das erst nach der Geburt seiner Tochter offenbar wurde. Als sie zur Welt kam, war er natürlich verzückt wie jeder junge Vater, doch als es an der Zeit war, sie das Lesen zu lehren, trat erstmals seine merkwürdige Melancholie zutage. Der Anblick von George Carole mit dieser kleinen Tafel und dem Stück Kreide, der vor dem kleinen Mädchen mit dem lockigen schwarzen Haar saß, gab dem Betrachter irgendwie das Gefühl, er würde Zeuge der traurigsten Sache auf Erden. Und manchmal, wenn er sein Kind hielt, griff er in die Tasche und zog eine sehr alte, riesige Uhr hervor und ließ sie vor den Augen seiner Tochter pendeln. Doch während sie das Stück mit verzücktem Lachen beäugte, wirkte Mr Caroles Gesicht niemals auch nur annähernd so beglückt.
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