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Silenus: Thriller (German Edition)

Silenus: Thriller (German Edition)

Titel: Silenus: Thriller (German Edition)
Autoren: Robert Jackson Bennett
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Uhr. Es war schon eine Weile her, seit er sich das letzte Mal so verwundbar gefühlt hatte. Viel zu lange hatte er sich in die Abgeschiedenheit des Orchestergrabens zurückgezogen, sich zusammengekauert in der Dunkelheit auf der anderen Seite des Rampenlichts. Aber nun war das alles vorbei, und sollte irgendetwas schiefgehen, ehe er Parma erreicht hatte, dann wären die Monate im Otterman’s umsonst gewesen.
    Erst, als George eingestiegen war und der Zug den Bahnhof verließ, atmete er wieder ruhiger. Und dann fing er an, ungläubig zu grinsen. Es passierte wirklich: Nachdem er ein halbes Jahr um Neuigkeiten geradezu gebettelt hatte, war er nun endlich unterwegs, um den legendären Heironomo Silenus zu sehen, den Leiter einer Gruppe wundersamer Künstler, den berühmten Impresario, den am schwersten greifbaren und rätselhaftesten Künstler, der je in den Theatern des Keith-Albee-Circuits aufgetreten war. Und – und das war vielleicht das Unfassbarste – den Mann, den George Carole verdächtigte, sein Vater zu sein.

2
     
    DIE MÄNNER IN GRAU
     
    Wie jede Stadt im nördlichen Ohio war Parma winterliche Kälte gewohnt, dennoch fühlten sich die Bewohner immer zunehmend unwohl, wenn die Sonne unterging. Sie hasteten durch die Straßen, konnten es kaum erwarten, in einer offenen Tür Schutz zu suchen, und wagten sich nur widerstrebend ins Freie, selbst wenn sie Geschäften nachgehen mussten oder Besorgungen zu erledigen hatten. Selbst Taxifahrer und Kutscher waren davon betroffen und wiesen Fahrgeld und Passagiere zurück, um stattdessen in die Stallungen zurückzukehren, wo sie sich zusammendrängten, rauchten, von einem Fuß auf den anderen traten sowie gelegentlich hinausblickten und die Köpfe schüttelten.
    Woran das lag, war schwer zu sagen. Vielleicht war es der Wind, sagten manche Leute: Er schien außergewöhnlich kalt und bitter zu sein. Nie ließ er auch nur für eine Minute nach, und doch brachte er keine Stürme mit sich, wie man es bei solch einem Wetter erwarten sollte. Aber es war nicht nur der Wind, wie sie sich eingestanden. Auch mit dem Himmel stimmte etwas nicht, selbst wenn es ihnen schwerfiel, genauer auszumachen, was nicht in Ordnung war: So absurd es sich auch anhörte, die Leute vermochten nicht zu sagen, ob die seltsame Formation der Wolken den Himmel zu groß oder vielleicht doch zu klein erscheinen ließ. Andere widersprachen in beiden Punkten und behaupteten, es ginge nicht um seine Größe, sondern um die Zeit : Es war, als hätte der Himmel vergessen, wie spät es war, und folge nun einem falschen Zeitplan. Der Mond und die Sterne leuchteten zu hell für sechs Uhr, und der Himmel war viel zu dunkel. Blickte man hinauf, glaubte man, es sei schon Mitternacht.
    Die Zeitfrage war allerdings nicht das einzige Problem dieses Abends in Parma – da gab es noch ein Phänomen, das so sonderbar und verblüffend war, dass niemand bereit schien, darüber zu sprechen: Etwas stimmte nicht mit dem Licht . Der Unterschied war subtil und von einer Art, die die Menschen nur schwer ergründen konnten, aber es schien, als hätten sich die Schatten mit Einbruch der Dunkelheit verdoppelt. Oft tauchten sie an Orten auf, an denen es keine Schatten geben dürfte. Wenn Flaneure hinauf zu dem seltsam hellen Mond und den Sternen blickten, fragten sie sich, wie die Straßen bei solch einem Überfluss an Licht so dunkel und abschreckend aussehen konnten. (Und manch ein Passant ertappte sich bei dem Gedanken, dass die Anzahl der Straßen in Parma in den vergangenen paar Stunden auf mysteriöse Weise zugenommen hatte: Es schien plötzlich viel mehr finstere Gassen und Wege zu geben als am Nachmittag, und sie führten zu Orten, die, soweit sich die Menschen erinnerten, niemand je zuvor gesehen hatte.) Das Phänomen trat jedoch nicht nur unter freiem Himmel auf: Familien, die in ihren Esszimmern beisammensaßen, sahen sich genötigt, doppelt so viele Kerzen und Lampen anzuzünden als an normalen Abenden, denn jede Flamme bot nur eine erbärmliche Spur von Licht in einem überwältigenden Meer der Finsternis. Und obwohl die Räume üblicherweise vier Wände hatten und folglich auch nur vier Ecken haben sollten, drängte sich manchem Bewohner der schaurige Verdacht auf, sein Heim wäre voll von dunklen Winkeln. Manchmal waren es sechzehn oder siebzehn Ecken in einem einzigen Raum, so, als hätte sich ab Sonnenuntergang die Natur der Geometrie verändert.
    Niemand in der Stadt hatte je etwas Ähnliches erlebt. Zumindest
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