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Silenus: Thriller (German Edition)

Silenus: Thriller (German Edition)

Titel: Silenus: Thriller (German Edition)
Autoren: Robert Jackson Bennett
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Theater gedämpft, und die Gespräche im Zuschauerraum verstummten. Hinter den Kulissen wurde ein Signal gegeben, woraufhin der Pianist sich setzte und anfing, mit arthritischen Fingern einen fröhlichen Walzer zu klimpern. Für George hörte sich das Spiel des Mannes gestelzt und oberflächlich an, aber er war viel zu gespannt auf das, was auf der Bühne passieren würde, um sich allzu sehr um die Geschehnisse im Orchestergraben zu scheren. »Und los geht’s«, flüsterte er etwas zu laut.
    Der Pianist spielte den Satz des unbekannten Stücks, und als er begann, ihn zu wiederholen, kam – nein, platzte – ein Mann von der Seite herein und stürmte mit spürbarem Selbstvertrauen in die Bühnenmitte. Er trug einen roten Mantel, eine karierte Hose und einen schwarzen Zylinderhut und hatte die in weißen Handschuhen steckenden Hände zu Fäusten geballt. George hatte den Eindruck, der Mann wäre sogar durch eine Ziegelmauer marschiert, hätte ihm eine den Weg verstellt. Als er die Bühnenmitte erreicht hatte, blieb er abrupt stehen, wirbelte zum Publikum herum und zog in der Bewegung schwungvoll seinen Zylinder. Eine Weile schaute er prüfend in den Zuschauerraum, ganz wie ein Mann, der ein zum Verkauf stehendes Pferd begutachtet, und die Leute wussten nicht recht, ob sie applaudieren sollten oder nicht.
    Für George schien die Zeit stillzustehen, während er den Mann auf der Bühne anstarrte. Von seiner Pose abgesehen, war dies die lebendig gewordene Illustration von der Theaterkarte. Der Mann war klein, schnauzbärtig und hatte einen leichten Schmerbauch, und er trug das dichte schwarze Haar über den Kopf zurückgekämmt. Es glänzte wie Öl. Aber was George am meisten faszinierte, war das Gesicht des Mannes. Obwohl er das im Vaudeville verbreitete weiße Make-up trug, konnte George erkennen, dass Wangen und Mund des Mannes starke Falten aufwiesen und seine kalten blauen Augen tief in den Höhlen saßen. Dies war kein hübsches Gesicht; es war unnachgiebig und herb, ein Gesicht, das Stirnrunzeln und finstere Blicke gewöhnt war. Aber das Erstaunlichste an ihm war, dass es ein wenig dem Gesicht der Person ähnelte, die George jedes Mal sah, wenn er in den Spiegel blickte.
    »Ladys und Gentlemen!«, rief der Mann mit angenehm tiefer, tabakgeschwängerter Stimme. »Ich bin heute zu Ihnen gekommen, um die Wunder der Ferne zu Ihnen zu bringen. Würden Sie sich meine Schuhe genau ansehen, so fänden sie unter den Sohlen die Erde von tausend Ländern. Meine vielen Mäntel sind getränkt von der salzigen Luft aller sieben Meere. Und würden Sie einen Blick in meinen Mülleimer werfen, sähen Sie ein Dutzend abgetragener Hüte, deren Farbe von fernen Sonnen gebleicht wurde. So weit bin ich gereist, um den kostbarsten Schatz der Welt zu heben, unseren wertvollsten Besitz, unser verborgenstes und unberechenbarstes Wunder.« Er unterbrach sich, lächelte listig und zugleich ein wenig grausam, während das Publikum darauf wartete, dass er weitersprach. »Unterhaltung«, verkündete er und verbeugte sich. »Ich bin Heironomo Silenus.«
    Die Zuschauer lächelten und klatschten, aber George saß da wie vom Blitz getroffen, unfähig sich zu rühren, und versuchte, jeden Augenblick aufzusaugen. Silenus richtete sich ruckartig auf und trat an den Rand der Bühne. Er beugte sich zum Publikum hinaus. Im Licht der Gasflammen, die den Bühnenrand säumten, sah er fürchterlich grimmig aus, und einige Leute in der ersten Reihe zuckten vor ihm zurück.
    »Denn welch schönere Gabe hat der Schöpfer uns gegeben, als die Gelegenheit, loszulassen, uns zu entspannen und in ungesehene und ungeträumte Länder entführt zu werden, ganz einfach mit den simplen Mitteln des Theaters?«, fragte er. »Ein Klecks Farbe für das Gesicht, ein geklimperter Akkord, ein schön geschneidertes Kostüm und ein paar ausgewählte Worte, und wir werden mit der Vision von Dingen beschenkt, die nicht sind, nicht waren und nie sein werden. Wir werden mit Visionen des Anderen beschenkt. Diese Visionen halte ich in meiner Hand, begierig, sie in Ihren Schoß fallen zu lassen. Eingeschränkt werden wir nur durch eines: die Zeit, und Ihre werde ich nun nicht länger vergeuden.«
    Blitzartig fuhr Silenus herum und zog sich in die Mitte der Bühne zurück. Dabei zeigte er zum Vorhang und sagte: »Sehen Sie nun das Genie, das ich in Übersee in den geheiligten Hallen des alten Europa entdeckt habe! Er ist ein Mann der Technik und des Geistes von nie gesehenem
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