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Silbermantel

Titel: Silbermantel
Autoren: Guy Gavriel Kay
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immer noch nicht vorbei. Denn nun war der letzte Strohhalm nicht mehr da, der letzte Halt, an den sie, Jennifer, sich geklammert hatte.
    Er verließ den Raum. Er ließ sie mit dem Zwerg allein. Das, was von ihr übrig war.
    Blöd leckte sich die Lippen. »Steh auf«, gebot er, und sie erhob sich. Sie konnte nicht anders. Es gab keinen Strohhalm mehr, kein Licht.
    »Bettle darum«, verlangte er, und oh, was für eine Sünde war das gewesen? Doch noch während ihr Flehen unabänderlich aus ihr hervorbrach, während seine unflätigen Beschimpfungen auf sie herabregneten und dann schwere Schmerzen, die ihn erregten – während sie dies alles durchlitt, entdeckte sie etwas. Keinen Lichtschimmer, denn Licht gab es nicht mehr, es war erloschen; doch da, im allerletzten Augenblick, war ihr als einziges ihr Stolz geblieben. Sie würde nicht schreien, würde nicht verrückt werden, es sei denn, er befahl es ihr, und sollte er das tun, hieß das nach wie vor, dass er es sich nahm, dass sie es ihm nicht gab.
    Doch nach einer Weile wurde er ihrer überdrüssig und richtete, eingedenk der Befehle, die er erhalten hatte, seine Gedanken darauf, sie zu töten. Er war erfinderisch, und nach einiger Zeit hatte es den Anschein, als erlege der Schmerz ihr nun doch Unmögliches auf. Mit Stolz kommt man nicht weit, und selbst Prinzessinnen können sterben, und so geschah es, dass sie doch noch zu schreien begann, als der Zwerg anfing, ihr ernsthaft weh zu tun. Kein Strohhalm, kein Name, nichts blieb ihr als die Finsternis.
    *
    Als am Morgen die Gesandten aus Cathal den Großen Saal von Paras Derval betraten, stellten sie mit augenscheinlicher Verblüffung fest, dass ihre Prinzessin sie dort erwartete, um sie willkommen zu heißen.
    Kim Ford kämpfte vergebens gegen ein Kichern an. Sharras Beschreibung der möglichen Reaktionen auf Seiten der Gesandten deckte sich auf so wunderbare Weise mit der Wirklichkeit, dass sie mit Sicherheit wusste, wenn sie auch nur einen Seitenblick auf die Prinzessin warf, würde sie sich blamieren. Sie hielt bewusst den Blick gesenkt.
    Bis Diarmuid herbeigeschlendert kam. Die Sache mit den Wasserbottichen gestern Nacht hatte genau jene Art Albernheit bei den zwei Frauen hervorgerufen, die eine beginnende Freundschaft festigt. Lange hatten sie miteinander gelacht. Erst später war Kim eingefallen, dass der Mann verletzt war, womöglich in mehr als nur einer Hinsicht. Außerdem hatte er am Nachmittag dafür gesorgt, dass Sharra nicht nur das Leben, sondern auch ihr Stolz erhalten blieb, und er hatte ihnen empfohlen, sie sollten seinem Bruder die Krone aufsetzen. Daran hätte sie natürlich denken müssen, sagte sie sich, aber zu dem Zeitpunkt konnte sie es nicht, sie konnte einfach nicht die ganze Zeit ernst und feinfühlig sein.
    Außerdem gab es gegenwärtig keinerlei Anzeichen dafür, dass der Prinz schwer getroffen war. Im Schutz von Gorlaes’ dröhnender Stimme – es war ein wenig überraschend gekommen, dass Aileron ihn gleich wieder zum Kanzler ernannt hatte – schlich er sich an die beiden Frauen heran. Seine Augen blickten klar, sehr blau, und seinem Verhalten war kein Hinweis zu entnehmen, dass er sich vor wenigen Stunden sinnlos betrunken hatte, es sei denn in seinem leicht angestrengten Blick.
    »Ich hoffe«, raunte er Sharra zu, »der gestrige Tag hat Euren Drang befriedigt, mit Gegenständen nach mir zu werfen.«
    »Darauf würde ich an Eurer Stelle nicht zählen«, entgegnete Sharra herausfordernd.
    Er machte seine Sache gut, stellte Kim fest. Nun hielt er inne, um ihr einen kurzen, spöttischen Blick zu gönnen, wie einem unartigen Kind, ehe er sich wieder der Prinzessin zuwandte. »Das«, bemerkte er leichthin, »wäre schade. Erwachsene Menschen haben Besseres zu tun.« Und er entfernte sich elegant und selbstbewusst, um sich neben seinen Bruder zu stellen, wie es dem Thronfolger geziemte.
    Kim kam sich unverständlicherweise wie bestraft vor; die Sache mit dem Wasser war entsetzlich kindisch gewesen. Andererseits, fiel ihr plötzlich wieder ein, war er gerade dabei gewesen, in ihre Gemächer zu steigen! Er hatte verdient, was er bekommen hatte, und mehr als das.
    Was jedoch, obwohl es zweifelsohne stimmte, gar nicht von Belang zu sein schien. Im Augenblick kam sie sich immer noch wie ein kleines Kind vor. Gott, den bringt nichts aus der Ruhe, dachte sie und spürte, wie sich Sympathie für ihren neuesten Freund in ihr regte. Sympathie und, weil sie ehrlich mit sich war, auch ein klein wenig
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